Neue Kontroverse über DDR - Wolfgang Thierse im Interview

Unrechtsstaat oder nicht?

Pünktlich zum 20. Jahrestag des Volkskammer-Beschlusses zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik flammt die Diskussion um den Honecker-Staat wieder auf. War es ein "Unrechtsstaat durch und durch" oder "kein vollkommener Rechtsstaat, aber auch kein Unrechtsstaat"? Im domradio.de-Interview mahnt Wolfgang Thierse zu differenzierter Betrachtung.

 (DR)

domradio.de: Sie sind in der DDR groß geworden. Wie sehen Sie den Staat DDR wenn es um die Diskussion um Rechts- und Unrechtsstaat geht?
Wolfgang Thierse: Gewiss wird man über die DDR nicht nur die Formel vom Unrechtsstaat verwenden. Man muss darüber reden, dass es auch nach dem Selbstverständnis dieses Staates eine Diktatur der SED  und der Blockparteien gewesen ist, dass es eine zentralistische Planwirtschaft, dass es auch keinen Rechtsstaat gegeben hat, nämlich keine unabhängige Justiz, sondern durchaus politische Strafjustiz, dass man gegen die staatliche Verwaltung nicht prozessieren konnte, den Staat nicht anklagen konnte. Aber man muss natürlich auch darüber reden, dass diese DDR eine Notgemeinschaft ihrer Bürger gegen den Staat und seine Zudringlichkeiten und gegen den alltäglichen Mangel gewesen ist. Eine einzige Vokabel reicht nicht aus, die DDR angemessen darzustellen.

domradio.de: Man muss also unterscheiden zwischen dem Staat und den Menschen?
Thierse: Ohne Zweifel, das ist ein wichtiger Unterschied: Dieser Staat ist untergegangen, das System ist gescheitert, aber damit sind doch nicht die Menschen und ihre Biografien alle gescheitert! Diese Unterscheidung war mir immer wichtig. Das Urteil über das politische, ideologische und wirtschaftliche System der DDR muss klar und eindeutig sein, und das Urteil über die Menschen die dort gelebt haben auf höchst unterschiedliche Weise, dass soll behutsam und differenziert sein.

domradio.de: Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie gemacht, dass sie sagen können, die DDR sei eine "Diktatur" bzw. "kein Rechtsstaat" gewesen?
Thierse: Ich bin Sohn eines Rechtsanwaltes und ich bin aufgewachsen auch mit den Niederlagen meines Vaters in den Verfahren der politischen Strafjustiz. Das hat mich geprägt, ich war nie in der Gefahr ein Kommunist zu werden, weil ich all das nicht vergessen habe. Ein Beispiel: 1953, nach Stalins Tod, hat mein Vater einen Menschen verteidigt, der nach dem Genuss von allzuviel Bier auf dem Dorfplatz gerufen hatte: "Hurra, Stalin der größte Verbrecher aller Zeiten, ist tot". Daraufhin wurde er angeklagt und bekam acht Jahre Zuchthaus. Als das mein Vater abends erzählte, sind ihm die Tränen gekommen und er war wahrlich kein sentimentaler Mann. Er hatte nichts für seinen Mandaten tun können. Solche Berichte und Erlebnisse haben mich tief geprägt, und deswegen weiß ich, wie viel Unrecht in diesem Staat auch gerade von der Justiz gesprochen worden ist.

domradio.de: Warum gibt es dennoch immer wieder diese Diskussion?
Thierse: Man soll es nicht auf die Vokabel reduzieren, aber am Schluss muss man auch sagen, dass es ein Unrechtsstaat war. Natürlich, selbst in diesem Unrechtsstaat ist auch vernünftiges Recht gesprochen worden, in Ehescheidungen oder wenn ein Einbrecher verhaftet wurde, aber das galt ja sogar für die Nazizeit. Der Begriff Unrechtsstaat beinhaltet zwei Kriterien: dass es keine wirkliche Verwaltungsgerichtsbarkeit, keine unabhängige Justiz gegeben hat und dass es politische Strafjustiz gegeben hat, nicht mehr und nicht weniger.

domradio.de: Sie haben gesagt, dass sie einen "differenzierten Umgang" mit der ostdeutschen Geschichte fordern. Was genau meinen Sie damit?
Thierse: Wenn man nur über den Unrechtsstaat DDR redet, führt das dazu, dass sich viele Menschen getroffen fühlen und deswegen ist diese Unterscheidung wichtig zwischen System und Menschen. Selbst wenn ein System von Menschen getragen wird, dann doch auf höchst unterschiedliche Weise. Der Generalstaatsanwalt hat dieses System stärker getragen, als irgendein kleiner Angestellter oder eine Sekretärin, die ihre Lebenskompromisse in einer Diktatur eingehen mussten.

domradio.de: Was glauben Sie wird sich in den kommenden Jahren im Umgang mit der DDR-Geschichte vielleicht ändern?
Thierse: Ich hoffe, dass diese Differenzierung Platz greift und ich wünsche mir sehr, dass die Ostdeutschen selber ihre Lebensgeschichten erzählen in einer Mischung von Selbstbewusstsein und Selbstkritik. Dass sie erzählen, was ihnen gut gelungen ist und wo sie sich anständig, tapfer und mutig verhalten haben. Aber auch darüber reden, wie sie Kompromisse eingehen mussten. Manche davon waren beschämend und manche waren sehr intelligent und witzig.