Vor 15 Jahren fiel das Kruzifixurteil des Verfassungsgerichts

Die Empörung der 700.000

Kaum ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts dürfte die Menschen in Bayern mehr bewegt haben als jenes, das am 10. August vor 15 Jahren bekannt wurde. Der Spruch der höchsten deutschen Richter brachte rechtschaffende Bürger so in Rage, dass sie das erste Mal in ihrem Leben auf die Straße gingen. Und er eröffnete eine Debatte, die bis heute anhält: um das Kruzifix in Schulen und öffentlichen Gebäuden.

Autor/in:
Christian Wölfel
Das Kreuz-Urteil: Wird das Christentum immer unsichtbarer? (DR)
Das Kreuz-Urteil: Wird das Christentum immer unsichtbarer? / ( DR )

Ein Elternpaar hatte damals gegen eine Vorschrift geklagt, nach der in bayerischen Volksschulen ein Kruzifix angebracht werden muss. Die Karlsruher Richter gaben ihnen 1995 mit Verweis auf die Neutralitätspflicht des Staates Recht.

Das Urteil ebne den "Weg zu einem atheistischen Staat", kritisierte der damalige Kurienkardinal Joseph Ratzinger. Die Entrüstung im Freistaat war immens. 700.000 Unterschriften wurden gesammelt. Gläubige fürchteten einen wahren Sturm auf die Kreuze in Klassenzimmern, gar den Untergang des christlichen Abendlandes. In Oberammergau ließen Holzschnitzer trotzig wissen: "Wir machen weiter Kreuze."

Protest auf der Straße
Am 23. September, mitten in der Oktoberfestzeit, wurde der Protest auf die Straße getragen. Mehr als 30.000 Menschen versammelten sich auf dem Münchner Odeonsplatz. An der Spitze waren der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) mit dem Münchner Kardinal Friedrich Wetter und dem evangelisch-lutherischen Landesbischof Hermann von Loewenich. "Wir lassen nicht zu, dass mit den christlichen Symbolen zugleich die christlichen Werte aus der Öffentlichkeit verdrängt werden", rief Stoiber den Demonstranten aus ganz Bayern zu.

Er kündigte an, die Niederlage wettzumachen. Ein Gesetz sollte her, das den Bestand des Kreuzes in den Klassenzimmern sicherte. Das Vorhaben gelang - und zwar über einen Kniff: Durch eine sogenannte Widerspruchslösung dürfen Kruzifixe in Klassenzimmern bleiben, solange sich kein Protest dagegen erhebt. In Artikel 7, Absatz 3 des bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen ist das so geregelt. Versuche, diese Regelung vor Gericht zu kippen, scheiterten.

"Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht", heißt es nun in dem Gesetz. So komme der Wille zum Ausdruck, die obersten Bildungsziele "auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte unter Wahrung der Glaubensfreiheit zu verwirklichen". Nur wenn "aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung" widersprochen werde, müsse die Schulleitung eine gütliche Einigung erzielen, zur Not auch das Schulamt.

"Kein Sturm" auf die Kreuze
Wie diese Gründe aussehen müssen, um Erfolg zu haben, will man im Kultusministerium nicht präzisieren. Jedenfalls habe es keinen Sturm auf die Kreuze in den bayerischen Klassenzimmern gegeben. Aus jüngerer Vergangenheit seien "keine gravierenden diesbezüglichen Konfliktfälle an Schulen bekannt geworden", heißt es. Die Zahl dürfte gering sein, die Konfliktlösung vor Ort funktioniere. Selbst in den bayerischen Zeitungen sind nur gelegentlich Berichte über einen Streit ums Kruzifix zu lesen.

Das Kreuz mit dem Kreuz ist trotzdem geblieben. Im April war es mit Aygül Özkan eine CDU-Politikerin, die eine erneute Debatte entfachte. Die türkisch-stämmige Muslimin und inzwischen niedersächsische Sozialministerin forderte, Kreuze und andere religiöse Symbole, etwa Kopftücher, aus staatlichen Schulen zu entfernen. Sie sorgte für mächtig Wirbel, gerade bei ihren Parteifreunden von CDU und CSU.

Auch auf der europäischer Ebene wird derzeit über das Kruzifix gestritten. Derzeit verhandelt die große Kammer des Europäischen Menschengerichtshofs über die Frage des Kreuzes in Klassenzimmern. Die kleine Kammer hatte im November 2009 einer Klägerin Recht gegeben, die sich gegen das verpflichtende Kreuz in italienischen Klassenzimmern gewandt hatte