Aids-Experte Moldenhauer warnt vor finanziellen Einschnitten im Kampf gegen Immunschwäche - Ab Sonntag Weltaidskonferenz in Wien

"Die Epidemie ist in vollem Gang"

Der Aids-Experte Oliver Moldenhauer warnt davor, die Immunschwäche zu unterschätzen und finanzielle Mittel zu streichen. "Die Epidemie ist in vollem Gang", betont der Physiker, der bei der deutschen Sektion von "Ärzte ohne Grenzen" eine Kampagne für erschwingliche lebensnotwendige Medikamente leitet.

 (DR)

epd: Herr Moldenhauer, weltweit leben 33,4 Millionen Menschen mit HIV oder Aids. Aber die Zahl der Neuinfektionen sinkt, sie ging nach UN-Angaben auf 2,7 Millionen im Jahr 2008 zurück. Ist der Gipfel der Aids-Epidemie überschritten?
Moldenhauer: Das ist schwer zu sagen. Bei den Zahlen, die die Vereinten Nationen erheben, gibt es große Unsicherheiten. Ob wir den Gipfel jetzt überschritten haben, oder ob er noch bevorsteht, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Klar ist: Die Epidemie ist in vollem Gang. Weltweit sterben weiter rund zwei Millionen Menschen im Jahr an Aids und die Gesamtzahl der Infizierten steigt weiter.

epd: Seit rund 15 Jahren gibt es antiretrovirale Medikamente, die das Leben von Aidskranken verlängern und ihre Symptome lindern. Wo stehen wir heute bei der Aids-Bekämpfung?
Moldenhauer: Wir konnten große Erfolge erzielen. Das UN-Aidsprogramm spricht von fünf Millionen Menschen die heute mit antiretroviralen Medikamenten behandelt werden, darunter gut 160.000 von «Ärzte ohne Grenzen». Aber es gibt weiter eine gigantische Lücke: Rund 15 Millionen Menschen brauchen eine Behandlung. Etwa zehn Millionen Menschen wird sie also vorenthalten.

epd: Woran liegt es, dass nur ein Drittel der Aidskranken behandelt wird?
Moldenhauer: In die Aids-Bekämpfung werden zuwenig Mittel investiert. In den letzten Jahren sind große Fortschritte bei technischen Verfahren, Therapien und Kapazitäten erzielt worden. Wir sind jetzt in einer Position, wo wir deutlich mehr tun könnten, wenn die finanziellen Mittel da wären. Nun erleben wir aber, dass die Geldgeber Aids offensichtlich nicht mehr so wichtig nehmen. Wir befürchten einen Rückgang der Mittel für die Aidsbekämpfung.

epd: Was meinen Sie mit «Aids ist nicht mehr so wichtig nehmen?
Moldenhauer: Wir haben Informationen, dass das Bundesentwicklungshilfeministerium plant, den deutschen Beitrag an den Globalen Fonds gegen Aids, Malaria und Tuberkulose auf ein Drittel zu senken. Von insgesamt 600 Millionen auf 200 Millionen Euro in den nächsten drei Jahren. Diese Pläne sind schockierend.
Entwicklungsminister Dirk Niebel widerspricht damit deutlich Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel beim G-8-Gipfel in Kanada im Juni. Dort hat sie erklärt, dass die Wiederauffüllungskonferenz des Globalen Fonds im Oktober ein Erfolg werden soll.

epd: Was ist dann der Grund für die Kürzungspläne?
Moldenhauer: Das wäre keine Kürzung, das wäre ein radikaler Schnitt. Der Globale Fonds gegen Aids wäre der Hauptleidtragende von Kürzungsplänen im Entwicklungsbereich. Uns ist vollkommen unverständlich, warum Herr Niebel dies plant.

epd: Der Fonds ist der anerkannte Hauptfinanzierer für Aidsprogramme in aller Welt, der bisher rund 20 Milliarden US-Dollar mobilisiert hat. Streichen neben Deutschland auch andere Staaten ihre Mittel?
Moldenhauer: International ist das Bild gemischt. Es gibt Anzeichen aus Frankreich und Großbritannien, ebenso eine klare Ansage aus Japan, dass die Beiträge an den Fonds beibehalten oder erhöht werden. Auch in den USA geht es offenbar in diese Richtung, aber gleichzeitig kann ein US-Aids-Programm nicht mit mehr Geld rechnen.

epd: Wirkt sich auch die Wirtschaftskrise auf die Aids-Politik aus?
Moldenhauer: Die Wirtschaftskrise spielt eine große Rolle, vor allem der Sparzwang, dem sich Regierungen unterwerfen, nachdem die Rettungsprogramme für die Banken soviel Geld gekostet haben. Umso wichtiger ist daher die Forderung, neue Instrumente für die Finanzierung globaler Gesundheit weltweit zu nutzen. Ich denke an die Finanztransaktionssteuer und die Flugticketabgabe, die beide von Deutschland geplant sind. Leider will die Regierung die Mittel aber zur Konsolidierung des Haushalts verwenden. Wir fordern, dass Gelder daraus auch in weltweite Gesundheitsprogramme fließen.

epd: Was kostet heute eine Aids-Behandlung?
Moldenhauer: Der reine Medikamentenpreis ist abhängig von der Behandlung, die ein Patient braucht. Die billigste Einstiegstherapie gibt es heute für 67 Dollar jährlich. Das ist eine veraltete Therapie mit mehr Nebenwirkungen als nötig und einer höheren Gefahr, dass sich Resistenzen bilden. Die aktuell empfohlene Therapie beläuft sich auf 137 Dollar je Patient und Jahr. Wenn Unverträglichkeiten oder Resistenzen auftreten, betragen die Kosten einige hundert Dollar für einen Kranken im Jahr.

epd: Ist die Therapie in Afrika mittlerweile akzeptiert oder gibt es noch Widerstände gegen die Medikamente?
Moldenhauer: Der politische Widerstand ist geringer geworden. Es gibt weniger Leute, die antiretrovirale Medikamente als falsch und giftig ablehnen und stattdessen Rote Bete und Knoblauch empfehlen. Aber zuwenig Aids-Kranke suchen eine Behandlung. Der Grund ist vor allem die andauernde Stigmatisierung. Die Kranken haben Angst, dass ihre HIV-Infektion bekannt wird, weil sie eine Trennung von ihrem Lebenspartner oder den Verlust ihrer Arbeit und ihrer Wohnung befürchten.

epd: Was erwarten Sie von der Welt-Aids-Konferenz, die am Sonntag in Wien beginnt?
Moldenhauer: Es muss deutlich gemacht werden, dass wir weltweit zehn Millionen Menschen haben, die auf eine Aids-Therapie warten und sie heute benötigen. Wir brauchen auch massive Mehranstrengungen bei der Vorbeugung. Nach ersten Erfolgen ist es wie im Fußball: Wir haben gut gespielt, aber nach der ersten Halbzeit droht, das Spiel abgebrochen zu werden, weil die Finanzierung fehlt. Das ist, als ob das Flutlicht ausgeht. Wir können im Kampf gegen Aids was tun. Aber: Wenn jetzt der Geldhahn zugedreht wird, geht die Katastrophe unvermindert weiter. Da muss von Wien ein klares Signal ausgehen.

epd: Warum gibt es noch keine Schutzimpfung gegen Aids?
Moldenhauer: Aussagen zur Impfstoff-Forschung sind hochspekulativ. Seit vielen Jahren wird daran gearbeitet. Wenn es einen Aids-Impfstoff gäbe, wäre das der große Erfolg, der eine riesige Wirkung hätte. Ob das aber überhaupt gelingt und wenn ja wann, lässt sich nicht absehen. Im Kampf gegen Aids bleiben also nur Prävention und Behandlung.

epd: Wie verhalten sich denn die Pharma-Unternehmen, die in der Vergangenheit viel kritisiert wurden?
Moldenhauer: Bei den alten Aids-Medikamenten haben die Pharmakonzerne juristische Niederlagen einstecken müssen.
Nachahmermedikamente können daher patentfrei und kostengünstig in Indien produziert werden. Jetzt greifen aber Handelsabkommen, so dass neuere Arzneimittel auch in Indien patentiert werden. Wir sind also in einer Phase, in der die Preise wieder steigen. Zudem verhandelt die EU zurzeit mit Indien über ein Freihandelsabkommen. Ein Ziel ist die Stärkung des Patentschutzes und die Einschränkung der Generika-Produktion. Das wäre sehr problematisch.

epd: Indien gilt ja als Apotheke der Armen, weil dort viele Generika für Afrika und Asien hergestellt werden. Gibt es um jedes neue Aids-Mittel einen Streit über die Patente?
Moldenhauer: Die Produktionslizenzen müssen bei jedem Medikament neu erkämpft werden. Was wir brauchen, ist eine systematische Lösung. Wir brauchen Zwangslizenzen, wenn Pharmafirmen nicht kooperieren, um erschwingliche Medikamente für die Armen herstellen zu können. Wenn Unternehmen aber zur Zusammenarbeit bereit sind, können sie ihre Patentrechte in ärmeren Ländern an einen neugegründeten Patentpool geben und freiwillig ihre Rechte an lebensnotwendigen Medikamenten freigeben.

epd: Und wie kommen dann die Unternehmen auf ihre Kosten?
Moldenhauer: Die Forschung ist zwar sehr kostenintensiv, aber durch den Verkauf von Aids-Medikamenten in Nordamerika und Europa können die Unternehmen durchaus ausreichend Gewinne erzielen. Deshalb sollten sie bei lebensnotwendigen Medikamenten die Produktion von Generika in Indien für den Süden der Welt nicht weiter bekämpfen.

Interview: Elvira Treffinger