Rheinische Landeskirche meldet 57 Opfer von sexualisierter Gewalt

"Die gute Nachricht der Kirche pervertiert"

57 Opfer von Misshandlungen und sexualisierter Gewalt durch Kirchenmitarbeiter haben sich in den vergangen Monaten bei der Evangelischen Kirche im Rheinland gemeldet. Dabei handelt es sich um Fälle aus den 1940er bis 1980er Jahren, die strafrechtlich und disziplinarrechtlich verjährt sind. Es gibt aber auch neuere Fälle. Präses Schneider bittet um Verzeihung.

Evangelische Kirche im Rheinland: Aufarbeitung und Aufbruch (DR)
Evangelische Kirche im Rheinland: Aufarbeitung und Aufbruch / ( DR )

Die Vizepräses der rheinischen Landeskirche, Petra Bosse-Hube, erläuterte am Mittwoch vor Journalisten in Düsseldorf, neben diesen bei der Beratungsstelle eingelaufenen Altfällen gebe es auch Hinweise auf jüngere Vergehen, die auf Wunsch der Opfer an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet würden. Seit 2003 habe es 20 Fälle in der EKiR gegeben, die strafrechtlich und disziplinarisch verfolgt wurden oder bei denen die Opfer kein Verfahren gewollt hätten.

Insgesamt 36 der länger zurückliegenden Fälle betrafen nach den Angaben Gemeinden, Schulen und Internate. Weitere 13 Fälle hätten sich in Heimen der Diakonie und der Landeskirche ereignet. In fünf Fällen sei es um andere Landeskirchen, in drei um die katholische Kirche gegangen. In letzterem Fall hätten die Opfer meist aus Enttäuschung keinen Kontakt mehr zu ihrer Kirche, so Bosse-Huber.
Jüngere Fälle "nur" einzelne Übergriffe
Die am längsten zurückliegende Tat datiert den Angaben zufolge aus dem Jahr 1948. Die meisten Fälle von sexuellem Missbrauch und «schwarzer Pädagogik» stammen aus den 50er und 60er Jahren, wie die zentrale Ansprechpartnerin der rheinischen Kirche für Fälle sexualisierter Gewalt, Petra Hundhausen-Kelp, berichtete. «Die Heimkinderproblematik endet in den 60ern.» Diese Fälle seien alle straf- und disziplinarrechtlich verjährt, sagte Bosse-Huber weiter. «Das macht es für uns als Kirche umso bitterer, weil wir den Opfern mit Blick auf juristische Konsequenzen nicht gerecht werden können.»

Bei den jüngeren Fällen bis in die 80er Jahre handelt es sich nach Angaben der Juristin um einzelne Übergriffe in Gemeinden von Jugendleitern oder Pfarrern. Bei einer ersten Zwischenbilanz im März hatte die EKiR die Anzahl von acht Männern und Frauen genannt, die in dem Zeitraum von vor 30 Jahren Opfer von sexuellem Missbrauch und Gewalt geworden waren.

Präses bittet erneut um Verzeihung
Der rheinische Präses Nikolaus Schneider erneuerte seine Bitte um Verzeihung. Bei einem Gespräch mit ehemaligen Heimkindern, die Übergriffe erlitten hatten, sei ihm deutlich geworden, «wie sehr deren Leben durch das Tun Einzelner geprägt und oft genug nachhaltig geschädigt worden ist», sagte Schneider.

Wer als Mitarbeiter der Kirche anderen Menschen seelische und körperliche Gewalt antue, pervertiere die gute Nachricht der Kirche und verstoße gegen Gottes Gebote. Schneider verwies auch auf die seit 2003 in der EKiR existierenden «Verfahren für den Umgang mit Verdachtsfällen auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung». Dieses sehe sowohl eine strafrechtliche als auch eine kirchen-disziplinarische Verfolgung für die Täter vor.
Im Rahmen dieses Verfahrens hat es nach Angaben des Pressesprechers der rheinischen Kirche in den zurückliegenden sieben Jahren 20 Fälle gegeben, die für die Täter zu disziplinarischen und strafrechtlichen Konsequenzen vom Verweis bis zur Entfernung aus dem Dienst geführt haben.

Kein erweitertes Führungszeugnis
Bosse-Huber wandte sich gegen ein erweitertes Führungszeugnis für Ehrenamtliche in der Jugendarbeit. Es greife in die Persönlichkeitsrechte der Ehrenamtlichen ein und habe wohl nur einen geringen Nutzen. Auch passe es nicht zu einer von der evangelischen Kirche befürworteten Pädagogik des Vertrauens. Dagegen setze die EKiR für ihre rund 10.000 Ehrenamtlichen auf Selbstverpflichtung zu Weiterbildung und Aufklärung. Eine Beschäftigung mit dem Thema sexuelle Selbstbestimmung sei das wesentlich effektivere Mittel. Hierbei könne erarbeitet werden, was in der Jugendarbeit zulässig und sinnvoll sei und was nicht.

Auch einem Entschädigungsfonds für Opfer stehe die EKiR skeptisch gegenüber, so Schneider. Bei der Höhe eines solchen Fonds seien der Kirche zudem aufgrund der gegenwärtigen Finanznot Grenzen gesetzt. Keine finanzielle Entschädigung könne das Erlebte aufwiegen. Eine Notfallhilfe in einzelnen Fällen etwa bei gesundheitlichen Problemen sei aber möglich.

In der Regel gehe es den Betroffenen aber vor allem darum, Gehör, Bestätigung, Aufmerksamkeit und Verständnis zu finden, für das, was sie so viele Jahre in sich verschlossen hätten, betonte Bosse-Huber. «Sie suchen Menschen, die ihren oft schrecklichen Geschichten zuhören und ihnen Glauben schenken.» 30 bis 40 Prozent derjenigen, die sich gemeldet hätten, habe man weitergehende seelsorgliche oder therapeutische Hilfe vermittelt.

«Befreiende Wirkung»
Die Berichterstattung über das Thema Missbrauch und über das Beratungsangebot der rheinischen Kirche habe für viele Betroffene eine «befreiende Wirkung» gehabt, sagte Hundhausen-Kelp. Sie hätten festgestellt, «ich bin nicht alleine» und «ich bin nicht daran schuld» und seien dazu ermutigt worden, sich zu melden.

Zur Prävention will die rheinische Kirche künftig noch mehr Fortbildungen zum Thema sexualisierte Gewalt anbieten, wie Bosse-Huber ankündigte. Darüber hinaus sollten die rund 10.000 ehrenamtliche Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendarbeit eine Selbstverpflichtung unterzeichnen, Hauptamtliche müssten ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen.