Erzbischof Thissen zum 150. Geburtstag des Komponisten Gustav Mahler

Sehnsucht nach Tiefe

Heute jährt sich zum 150. Mal der Geburtstag Gustav Mahlers. Mahler gilt nicht nur als bedeutendster Symphoniker der Spätromantik, sondern war auch einer der berühmtesten Dirigenten seiner Zeit und als Operndirektor ein bedeutender Reformer des Musiktheaters. Ein Gastbeitrag des Hamburger Erzbischofs Werner Thissen.

 (DR)

Gustav Mahler (1860-1911) komponierte eine Musik der Kontraste für eine Zeit der Kontraste. Zum einen war Mahler Zeitzeuge der sich in Europa durchsetzenden Industrialisierung, die das Verhältnis des Menschen zu Natur und Religion tiefgreifend veränderte. Gleichzeitig offenbarte sich in der Gesellschaft als romantische Abwehr der modernen Entwicklungen die Sehnsucht nach einem ursprünglichen Leben mit spiritueller Tiefe.

Beide Elemente lassen sich in Mahlers Musik ausmachen. Besonders gilt das für seine neun Symphonien. In Vielem schließen sich diese an die Kompositionen der großen Symphoniker des 19. Jahrhunderts an: Ihr weit ausgreifender elegischer Ton erinnert an Anton Bruckner, die großen Chorsätze an Ludwig van Beethoven. Mahler findet aber zugleich eine ganz neue und spannungsreiche Musik für die neu anbrechende Zeit. Diese macht ihn zu einem Vorreiter der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Wer ihn hört, hört Altes und Neues in schöpferischer Verbindung.

Dies trifft schon auf seine erste, 1888 fertiggestellte Symphonie zu. Deren erster Satz nennt sich «Wie ein Naturlaut» und tritt in großer Zartheit aus einem Raum der romantischen Verklärung hervor. Dagegen der vierte Satz: Stürmisch bewegt und mit vielen ungewohnt anmutenden Brechungen und Kehrungen peitscht er die Symphonie zu ihrem Finale.

Oder die dritte Symphonie: In ihrer Mitte beweint sie unter Hinzuziehung eines Zitats aus Friedrich Nietzsches «Also sprach Zarathustra» die oftmals unbeantwortete Sehnsucht des Menschen nach Erfüllung: «O Mensch! Die Welt ist tief! Tief, tief, tief ist ihr Weh!» Und den letzten, gänzlich in sich ruhenden Satz der Symphonie wollte Mahler offenbar als die Botschaft eines liebenden Gottes verstanden wissen.

Auch in den anderen Symphonien spiegeln sich die Erfahrungen einer spannungsgeladenen Epoche wieder. Die Sechste - gelegentlich «die Tragische» genannt - endet in schmetternden Donnerschlägen. Dagegen erhebt sich der Schlusssatz der Siebten zu einem jubilierenden C-Dur Finale, das fast schon einen Optimismus verbreitet, der über alle erfahrbare Wirklichkeit hinausweist. Ähnliche Spannungen lassen sich auch in Mahlers Liedern entdecken. Sie schlagen den Bogen von Franz Schubert (1797-1828) zu Anton Webern (1883-1945).

Die zahlreichen Aufführungen von Mahlers Kompositionen, die in seinem 150. Geburtstagsjahr zu hören sind, machen deutlich, dass seine Musik heute viele Menschen anspricht. Auch unsere Zeit ist eine Zeit der großen Kontraste und Spannungen. Gerade in einer Welt, die von wirtschaftlichen Krisen und oftmals fragwürdigem technischen Fortschritt geprägt ist, bricht gleichzeitig eine Sehnsucht nach spiritueller Tiefe auf. Ist Mahlers Musik auch keine geistliche Musik im engeren Sinne, so ist sie dennoch voll von dieser Sehnsucht nach Tiefe, nach Geist, nach Gott. In den Menschen unserer Zeit vermag sie so, die Frage nach dem Mehr im Leben wach zu halten.

Zur Person: Gustav Mahler
Der aus einer jüdischen Familie stammende Gustav Mahler wurde am 7. Juli 1860 im böhmischen Kalischt geboren und starb am 18. Mai 1911 in Wien. Zwischen 1891 und 1897 prägte der österreichische Komponist als Erster Kapellmeister am Hamburger Stadt-Theater und Konzertdirigent im Conventgarten das Hamburger Musikleben entscheidend.