Vor 325 Jahren wurde der Schöpfer der Wieskirche geboren

Raumwunder des Rokoko

Die Wallfahrtskirche zum Gegeißelten Heiland nahe Steingaden im bayerischen Voralpenland, bekannt als "die Wies", ist Weltkulturerbe und eine der schönsten Rokokokirchen. Und sie ist das Hauptwerk des Baumeisters Dominikus Zimmermann. Heute vor 325 Jahren kam er zur Welt.

Autor/in:
Anselm Verbeek
 (DR)

Von außen ist sie eher unscheinbar. Doch wer den Innenraum der Wieskirche betritt, kann sich dem Zauber dieses Rokokojuwels nicht mehr entziehen. Der Blick wird emporgerissen im Sog eines lichtdurchfluteten Zentralbaus, Bau- und Zierformen verschmelzen zu einer rhythmischen, farbenglänzenden Einheit.

Zimmermanns Wiege stand in einer niedrigen Sölde, dem Häuschen eines Kunsthandwerkers in Gaispoint nahe der Benediktinerabtei Wessobrunn im oberbayerischen Pfaffenwinkel. Sein Heimatdorf und der Nachbarort Haid waren der Mutterboden der vielgefragten Wessobrunner Stukkatoren, die im Sommer zu den Baustellen zogen, um im Lauf von Generationen Hunderte von Kirchen, Klöstern und Schlössern in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz nach dem Zeitgeschmack des Barock und Rokoko zu dekorieren.

Dominikus und sein Bruder Johann Baptist haben ihr Handwerk von der Kelle an gelernt. Berufspraxis, kein akademisches Studium machte die Brüder zu berühmten Meistern ihres Fachs: Dominikus reifte zum Architekten, Johann Baptist zum Maler heran, mit einem seltenen Blick für das Ganze, das Gesamtkunstwerk. Zu Glanzleistungen steigerten sich die Brüder im Zusammenspiel, besonders in den Wallfahrtskirchen Wies und Steinhausen bei der damals schwäbischen Prämonstratenser-Reichsabtei Schussenried.

Als bauender Stukkateur gilt Dominikus Zimmermann. Einen ersten Großauftrag akquirierte er 1708 im Thurgauer Benediktinerkloster Fischingen, wo er mehrere Altäre aus Stuckmarmor baute. Den jungen Künstler empfahl eine als Geheimnis gehütete Technik, die er in einer Füssener Werkstatt gelernt hatte: Scagliola-Bilder, Einlegearbeiten mit farbiger Kunststeinmasse auf der Basis von Gips, Leim und Pigmenten. Wie sein Bruder liebte Dominikus Motive aus der
Natur: prachtvolle Blumenvasen und Akanthusranken oder einfach bestimmte Blumenarten und Kräuter, dargestellt mit botanischer Genauigkeit.

Die Grenzen zwischen tektonisch starren Teilen der Altäre und ornamentaler Auflockerung verwischen: Sockel und Altarplatte, Säule und Pilaster, Gesimse und Volute krümmen und biegen, drehen und schmiegen sich, anmodelliert an die rückwärtige Wand. Der spätere Meister der Innenarchitektur, des freipfeilergestützten Binnenraums in der groß gefensterten Außenschale auf ovalem Grund hat hier seinen Ursprung.

Landsberg am Lech wurde dem Künstler zur Heimatstadt. Hier erwarb er ein Haus, heiratete, gründete eine kinderreiche Familie, wurde Ratsmitglied und Bürgermeister. Auch in Landsberg wurde der populäre Architekt, gewöhnlich auf Reisen, tätig. Bekanntestes Werk ist die reich stuckierte Rathausfassade, die sich zu imposanter und dennoch spielerischer Vielgestaltigkeit auftürmt: Statt Atlanten stützen Putti Konsolen. Vier Jahre, nachdem Dominikus Zimmermann in Wies gestorben war, verbot ein kurfürstlicher Erlass jeden «lächerlichen» Rokoko-Zierrat beim Kirchenbau.

Die UNESCO hat anders entschieden. 1983 nahm die Kulturorganisation der Vereinten Nationen «die Wies» unter die Welterbestätten auf. Das von 1745 bis 1754 entstandene Gebäude gilt Experten als «Raumwunder» und ist als einer der wenigen Kirchenräume des 18. Jahrhunderts bis heute unverändert erhalten.