Oft verdrängen Opfer sexuellen Missbrauchs jahrzehntelang die Erinnerung

Zu großer Schmerz für Kinderseelen

Das Ausmaß von Missbrauch an Kindern ist statistisch kaum zu erfassen - auch wegen der häufigen Verdrängung. Fast immer leidet das Opfer unter psychischen Folgen. Eine Therapie kann helfen, auch wenn sie schmerzhaft ist.

Autor/in:
Sarah Salin
 (DR)

Der Vorfall liegt über 50 Jahre zurück. Doch das Bedürfnis der Seniorin, davon zu erzählen, ist groß: "Ich war um die zehn Jahre alt und manchmal bei unserem Nachbarn zu Besuch. Einmal saßen wir zwei allein an einem Tisch, da ist der Mann mit seinen Fingern in meine Unterhose und hat mich befummelt." Das verunsicherte Mädchen hat damals keinem etwas gesagt. Auch heute möchte die Seniorin lieber anonym bleiben.

Nach dem Vorfall habe sie sich jahrelang nicht an den sexuellen Übergriff erinnern können, berichtet die Frau. Erst 13 Jahre später in ihrer Hochzeitsnacht war alles plötzlich wieder da. "Ich habe viel geweint, war aber mit einem sehr verständnisvollen Mann verheiratet, mit dem ich alles bereden konnte." Das sei ihre Therapie gewesen.

"Ich war 24, als die Erinnerung kam"
Die Verdrängung von Traumata ist ein bekanntes Phänomen in der Psychoanalyse: "Um ihre Seele zu schützen, spalten viele Kindern die belastenden Erinnerungen sexuellen Missbrauchs erstmal ab, sie werden ins Unterbewusstsein verschoben", erklärt die Traumatherapeutin Ilka Villier. Es sei wie eine fest und oft jahrzehntelang verschlossene Schublade. Meist springt sie später aber wieder auf.

"Ich sah zufällig im Fernsehen einen Film über den Missbrauch zweier Buben und war danach ganz durcheinander. Es kamen Gefühle hoch von damals. Ich weiß, dass etwas passiert ist, kann aber keine genauen Bilder abrufen," schreibt ein Mann in einem Online-Forum. "Ich war 24, als die Erinnerung kam, nämlich kurz nach dem Tod des Täters, meines Großvaters", schreibt eine Frau in dem Forum.

Bilder, Gerüche, Jahreszahlen oder Orte und Situationen, die der Missbrauchssituation ähnlich sind, können die schmerzhaften Erinnerungen wieder hervorrufen. "Ebenso gibt es Körpererinnerungen, das Kind hat nochmals das gleiche Gefühl wie in der traumatischen Situation, beispielsweise Herzrasen und Schmerzen", erläutert Villier, die bei "Zartbitter" in Köln arbeitet, einer Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen.

Manche glauben auch nur irrtümlich, Missbrauch erlebt zu haben
Das Ausmaß von Missbrauch an Kindern ist auch wegen der häufigen Verdrängung statistisch kaum zu erfassen. Manche Menschen glauben auch nur irrtümlich, Missbrauch erlebt zu haben, wie Studien über sogenannte "False Memories" belegen. Wissenschaftlichen Studien zufolge liegt die Missbrauchsquote bei Mädchen zwischen zehn und 15 Prozent, bei Jungen zwischen fünf bis zehn Prozent. Rund 95 Prozent der Täter kommen aus dem Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis. Der Vater-Tochter-Inzest ist die vermutlich die häufigste Form.

Fast immer leidet das Opfer unter psychischen Folgen: Einige der häufigsten sind Depressionen, Ess-, Schlaf- und Sexualstörungen, Phobien, Beziehungsunfähigkeit, Süchte, psychosomatische Krankheiten, ein auffälliges Hygieneverhalten, Aggressionen sowie erhöhte Suizidgefährdung. Missbrauch gilt somit als eine der häufigsten Ursachen für schwere psychische Störungen. Etwa 70 Prozent aller weiblichen Insassen geschlossener Psychiatrien sind laut Studien als Kind sexuell missbraucht worden.

Eine Therapie kann helfen, auch wenn sie schmerzhaft ist: "Betroffene Mädchen und Jungen werden häufig von alten Erinnerungen überflutet und erleben die erlebte Gewalt nochmals neu", sagt Villier. Das wichtigste sei dann, das ein Kind erfährt, das ihm Glauben geschenkt und es geschützt wird und ihm deutlich gemacht werden kann, dass der Täter die Verantwortung für den Missbrauch trägt. In einer Spieltherapie können die erlebten Ohnmachtserfahrungen ganzheitlich verarbeiten werden, zum Beispiel in Rollenspielen, durch Malen und plastisches Gestalten.

Eine Therapie ist keine Garantie dafür, dass alle Folgen bewältigt werden, berichtet Villier: "Dennoch ist es für jedes Opfer eine positive Erfahrung, dass es ernst genommen wir und in seinem Leid verstanden und getragen wird."