Wie Chile nach dem Erdbeben einen Weg in die Normalität sucht

Die vergessene Katastrophe

Es ist der Jahresbeginn der Naturkatastrophen: Im Januar zerstörte ein Erdbeben Haiti, am 27. Februar bebte die Erde in Chile. Das in Spenden und medialer Aufmerksamkeit ausgedrückte Mitgefühl ist meist nur von kurzer Dauer. Auch das Erdbeben in Chile scheint wenige Wochen danach eine vergessenen Katastrophe zu sein.

Autor/in:
Julia Grimminger
 (DR)

Chile könnte auch als Land der verzögerten Hilfe gelten. Weil die Kommunikation nach dem Beben komplett versagte, reagierte die Hilfsmaschinerie vergleichsweise spät. Diese Ansicht teilt auch Bischofsvikar Cristian Precht aus der Erzdiözese Santiago, der derzeit in Deutschland ist. Wasser, Nahrungsmittel und medizinische Hilfe hätten den schwer beschädigten Süden des Landes erst Tage später erreicht. Zugleich verkalkulierte sich das Krisenmanagement aufgrund ungenauer Informationen und lehnte zunächst internationale Hilfen ab. Im Krisengebiet folgten Diebstähle und Plünderungen. Es sei eine Fassade zusammengebrochen, hieß es in den Medien. Selbst im südamerikanischen Vorbildland Chile herrsche eine unerbittliche Ungleichheit zwischen Arm und Reich, die das Erdbeben nun ans Licht bringe.

Precht spricht dagegen von einer "starken Solidarität". Bei seinem Besuch der Bischöflichen Aktion Adveniat in Essen will der Chilene eine realistische Einschätzung der Situation vor Ort geben. Eine solche Katastrophe bringe immer das Schlechteste und das Beste zum Vorschein, erzählt der 69-Jährige. Derzeit seien etwa eine Million Menschen obdachlos. Die Aktion "Roof for Chile" baue derweil 20.000 Holzhütten auf. Helfer von Caritas und dem Roten Kreuz verteilten Nahrungsmittel und kümmerten sich um die medizinische Versorgung. Der Rückgang zur Normalität werde allerdings immer wieder von Nachbeben überschattet. Erst am Mittwoch habe es wieder eine Erschütterung mit Stärke 6,2 auf der Richterskala gegeben.

Neben Krankenhäusern und Schulen sind auch zahlreiche Kirchenbauten eingestürzt. In der Hauptstadt Santiago wurden nach Medienberichten 70 Prozent der Gotteshäuser zum Teil komplett zerstört. Nun gehe es darum, die Kirchen wieder aufzubauen, sagt Precht. Genauso wichtig ist ihm aber die moralische Aufbauhilfe. Dazu gehöre, der Bevölkerung, die zu 70 Prozent katholisch sei, Werte wie Gerechtigkeit und Solidarität zu vermitteln. "Nach einer solchen Katastrophe fühlt man sich wie nackt", erklärt der Vikar.

Prozessionen, Kreuzwege und Gottesdienste zu Ostern
Mehr als 80.000 Chilenen haben sich laut Precht bereits engagiert. Darunter seien viele Christen. Sie verteilen Nahrungsmittel oder helfen, die Straßen von Trümmern zu befreien. Es tue den Helfern gut, mit den Händen zu arbeiten, hat der Bischofsvikar beobachtet. Zugleich brauchten sie aber auch selbst Unterstützung, eine Umarmung. Zu Ostern hat er deshalb mit weiteren Geistlichen mehrere Prozessionen, Kreuzwege und Gottesdienste organisiert. Für alle Helfer sei es wichtig, einen Weg zu finden, "das Gebet zu spüren".

Bis der südamerikanische Staat wieder zur Normalität zurückkehren könne, vergingen noch vier bis fünf Jahre, so Precht. Hilfsorganisationen wie die Malteser planen nach der kurzfristigen Katastrophenhilfe nun langfristige Projekte. Dazu gehören eine psychologische Betreuung für traumatisierte Kinder und Hilfen für die Fischer. Etwa 30.000 chilenische Fischer haben durch den Tsunami, der auf das Beben folgte und Boote und Ausrüstungen zerstörte, ihre Lebensgrundlage verloren. Sie wollen arbeiten, so Precht. Die Fischerei sei nicht nur ein Beruf, "sie ist tief in den Menschen verwurzelt".