Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick zu den Missbrauchsfällen

"Diese Eiterbeule muss aufgestochen werden"

Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick hat das frühere Vorgehen bei Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche als "falsch" bezeichnet. Im Interview spricht er über die Aufarbeitung der Fälle, Prävention und die Entschädigung der Opfer.

 (DR)

KNA: Herr Erzbischof, was lief falsch, dass das Thema Missbrauch so lange nicht in der katholischen Kirche aufgearbeitet wurde?
Schick: Viele Missbrauchsfälle werden jetzt erst gemeldet.
Missbrauch war zu lange tabu. In früheren Fällen, die aufgedeckt wurden, haben die Kirche und auch andere Institutionen, aus heutiger Sicht, falsch gehandelt. Man meinte durch ernste Ermahnung, Bestrafung und anschließende Versetzung den Missbrauch beenden zu können. Man hat nicht gesehen, dass pädophile Täter immer wieder Delikte begehen, wenn sie nicht bestraft und therapiert werden und danach bei einem eventuellen Einsatz unter ständiger Beobachtung stehen und ständige psychotherapeutische Hilfe bekommen. Es muss auch alles getan werden, dass sie nicht mehr in der Kinder- und Jugendarbeit tätig werden können.

KNA: Was muss die katholische Kirche ändern, um in Zukunft Missbrauch zu verhindern?
Schick: Die Kirche muss die Missbrauchsfälle der Vergangenheit in aller Offenheit und Radikalität aufarbeiten. Dazu gehört, dass Tatortanalysen erstellt werden. Es muss gefragt werden, an welchen Orten, in welchen Milieus, Internaten, Schulen, Jugendgruppen sind Übergriffe passiert? Warum wurde dort gemunkelt und nicht offen geredet? Warum haben Verantwortliche nicht hingeschaut, sondern weggeschaut? Warum gab es diesen Deckmantel des Schweigens?

Es müssen auch genaue Täterprofile erstellt werden. Welche Charaktereigenschaften, Veranlagungen, Defekt haben diese Personen, warum sind sie in die Jugendarbeit gekommen oder haben sich vielleicht auch hineingedrängt? Die Taten selbst müssen genau unterschieden werden: War es pädophiler Missbrauch oder missbräuchliche Übergriffe oder sexuelle Belästigungen oder Prügelstrafen? Nur so erhalten wir genaue Kenntnisse über den Missbrauch, aus denen dann die entsprechenden Konsequenzen für die Prävention gezogen werden können.

KNA: Wie kann Prävention konkret aussehen?
Schick: In der Ausbildung muss über Sexualität und ihre Fehlformen, Unreife, sowie unklare oder fehlgesteuerte sexuelle Orientierung gesprochen werden. Die Kandidaten für das Priesteramt, aber auch für den Lehrer- und für den Erzieherberuf sowie für alle Berufe, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, müssen sich mit ihrer Sexualität und Beziehungsfähigkeit auseinandersetzen. Dazu müssen auch Psychologen und Psychotherapeuten eingeschaltet werden. Für den Priesterberuf und alle sozialen Berufe brauchen wir fachlich gut qualifizierte und menschlich reife Personen.

Auch in der Fortbildung kann noch einiges getan werden. Im Erzbistum Bamberg wurden schon mehrere Veranstaltungen für die Priester, pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ordinariat zum Thema sexueller Missbrauch und Prävention sowie zum richtigen und verantwortungsvollen Umgang mit Distanz und Nähe durchgeführt. Es darf keine Grauzonen geben, wo Missbrauch geschehen kann. Der Missbrauch darf nie wieder Tabuthema werden. Auch bei Kindern und Jugendlichen ist anzusetzen. Das Projekt «Starke Kids» kann zum Beispiel helfen, dass sie sich besser wehren können. Sie müssen auch befähigt werden, einen Missbrauch oder Übergriff mitzuteilen.

KNA: Wie lässt sich verhindern, dass durch ein zu schnelles Einschalten der Staatsanwaltschaft ein Klima der Denunziation gefördert wird?
Schick: Davor habe ich keine Angst. Denunzianten werden von geschulten Justizbeamten sehr schnell erkannt. Es soll jetzt alles herauskommen. Man sollte ermuntern, dass alles gemeldet wird, auch wenn es schon lange zurückliegt. Diese Eiterbeule muss aufgestochen werden, es muss alles heraus, damit Heilung geschehen kann. Dabei ist es aber auch wichtig, alle Missbrauchsfälle zu nennen. Im familiären Umfeld kommen die meisten vor, die anderen in Schulen, Sportvereinen, Internaten und Jugendgruppen. Missbrauch ist ein gesellschaftliches Problem, das ausgemerzt werden muss.

KNA: Sie haben vorgeschlagen, dass die Täter die Opfer entschädigen sollen. Inwieweit ist aber auch die Kirche gefordert?
Schick: Den Opfern muss geholfen werden. Das ist das Wichtigste. Nach unserem Recht sind die Täter als Erste in der Pflicht zu bekennen, sich zu entschuldigen, wieder gut zu machen und den Missbrauchsopfern zu helfen. Wenn ein Täter nicht in der Lage dazu ist, zum Beispiel weil er gestorben ist, müssen die Kirche oder der Staat, der Sportverein oder die Organisation, wo der Missbrauch geschehen ist, mit den Opfern überlegen, wie geholfen werden kann.

Interview: Christian Wölfel