Prälat Karl Jüsten zu zehn Jahren im politischen Berlin

"Klientelpolitik ist nicht das, was katholisch ist"

Seit 1. März 2000 vertritt Prälat Karl Jüsten die Deutsche Bischofskonferenz im politischen Berlin. Im Interview schildert der 48-jährige Leiter des Katholischen Büros bei der Bundesregierung am Wochenende in Berlin seine Erfahrungen aus zehn Jahren Arbeit.

 (DR)

KNA: Herr Prälat, Sie haben in den zehn Jahren verschiedene Konstellationen erlebt: Rot-Grün, große Koalition, nun Schwarz-Gelb.
Was verändert sich mit den Farben?
Jüsten: Gar nicht so viel. Die Erfahrung ist: Unabhängig von der je aktuellen Farbenkonstellation treffe ich auf offene Ohren. Egal, wer an der Regierung war oder ist: Wir werden offen und gut empfangen. Und nicht zuletzt garantiert die Ministerialbürokratie eine gewisse Kontinuität.

KNA: Gesamtgesellschaftlich lässt die religiöse Bindung nach. Ist dieser Trend im politischen Raum nicht zu spüren?
Jüsten: Es mag diesen Säkularisierungsschub in der Gesellschaft geben. Aber bei den politischen Repräsentanten finden wir hohes Interesse für unsere Positionen. Dabei spiegeln sie in etwa das Bild der Gesellschaft; so gibt es Leute, die einer Kirche angehören, die ausgetreten sind oder nie Kirchenmitglied waren. Aber wenn wir unsere politischen Anliegen sachgerecht vortragen und nicht auf Einzelinteresse setzen, sondern das Gemeinwohl, soziale Gerechtigkeit und inneren Frieden im Blick haben, wird uns hohe Kompetenz zuerkannt.

KNA: Was hat Sie bei solchen Begegnungen am ehesten überrascht?
Jüsten: Menschlich war ich vor allem von jenen Persönlichkeiten überrascht, denen man nicht so ohne weiteres eine Nähe zu einer Glaubensgemeinschaft unterstellen würde. Ich habe freundschaftliche, fast herzliche Beziehungen gewonnen zu Politikern, die uns als Kirche nicht nahestehen.

KNA: Sie haben eben von Ihrem Engagement für das Gemeinwohl gesprochen. Sehen Sie sich als Lobbyist?
Jüsten: Wenn ich diesen Titel für mich akzeptieren würde, dann nur als ein - wenn Sie so wollen - Lobbyist für Gott und die Menschen. Als jemand, der den Anliegen jener, die sich sonst vielleicht nicht äußern könnten, etwas Gehör zu verschaffen versucht. Aber ich will auch Gott und das Evangelium in der Politik zur Sprache bringen. Wenn ich in einer solchen Weise Lobbyist bin, dann bin ich es gerne. Aber dem Katholischen Büro geht es nicht um kirchliche Eigeninteressen.

KNA: Sie haben Ihr Studium mit einer Doktorarbeit in kirchlicher Soziallehre beendet. Welchen Stellenwert hat sie heute in der Politik, die doch so viel um Sozialstaatsprinzipien streitet?
Jüsten: Es gibt ein Auf und Ab in der Sozialstaats-Debatte der vergangenen zehn Jahre. Anfangs war sie stark geprägt vom Blair-Schröder-Papier, das auf eine Abkehr von einer bestimmten Form des Sozialstaats setzte. Nach dieser Initialzündung hat die CDU bei ihrem Leipziger Parteitag 2003 nachgezogen, hat radikalere, als Reformen bezeichnete Veränderungen gefordert und auf Einschnitte in den Sozialstaat gesetzt. Beide Parteien mussten die Erfahrung machen, dass weite Teile der Bevölkerung diese Art der Politik nicht teilen. Beide Parteien verfolgen diese Ziele auch angesichts der Finanzmarktkrise nun erkennbar verhaltener oder gar nicht mehr.

Plädoyers, den Sozialstaat deutlich zu reduzieren, erleben wir derzeit nur bei einer kleinen Partei. Und das scheint mir eher taktisch und ideologisch bestimmt als sachlich begründet zu sein.

KNA: Und trotzdem läuft seit Wochen eine kontroverse Debatte um Sozialleistungen.
Jüsten: Die Debatte kreist doch viel zu reduziert um die Frage, wie viel oder wie wenig ein Mensch bekommen darf. Gewiss, dass ist wichtig und treibt viele Menschen um. Aber es ist letztlich doch nachrangig. Zentraler ist die Frage: Was tun wir, um den Menschen dauerhaft zu helfen, die - selbstverschuldet oder unverschuldet - nicht in der Lage sind, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, einen Beruf zu erlernen, zu arbeiten, eine Familie zu ernähren, Teilhabe zu erleben. Es macht mir Sorge, dass wir einen bestimmten Teil der Gesellschaft aufgegeben haben und ihn nur noch subventionieren. Das geht auf Dauer nicht. Nebenbei: Mancher, der sich an der Debatte beteiligt, hat nach meinem Eindruck keine Ahnung davon, was es heißt, in unsicheren wirtschaftlichen Verhältnissen oder von Niedriglöhnen oder Hartz IV zu leben.

KNA: Da geht's vor allem um Bildungs- und Sozialpolitik.
Jüsten: Nicht nur. Es geht um Gesellschaftspolitik insgesamt. Wir müssen darauf achten, dass die Gesellschaft nicht auseinanderbricht, dass wir nicht «die da unten» und «die da oben» haben und die Mittelschicht fürchtet, dazwischen zerrieben zu werden. Und die Politik muss darauf achten, dass ihr Handeln nicht nur einzelnen Klienten hilft. Klientelpolitik ist gewiss nicht das, was katholisch ist. Als Kirche achten wir darauf, dass das Gemeinwohl insgesamt im Blick bleibt.

KNA: Während der vergangenen Jahre gab es beim parteipolitischen Engagement von Christen auffallende Entwicklungen: In der SPD entstand eine «Arbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen», die FDP-Fraktion hat seit einiger Zeit eine entsprechende Gruppe. Vor allem gibt es in der Union Kontroversen um die christliche Identität der C-Parteien. Wie empfinden Sie diese Suchbewegungen?
Jüsten: Das finde ich zunächst wunderbar und unterstütze es, wo ich kann. Und ich ziehe da an einem Strang mit meinem evangelischen Kollegen, denn viele dieser Initiativen sind ja ökumenisch angelegt. Da gibt es ein Suchen und gewiss auch ein Ringen. Denn in der SPD begeistert es gewiss nicht alle, dass es eine Arbeitgemeinschaft der Christen gibt. Und die FDP-Gründung passt nicht ganz zur alten kirchenfeindlichen Position der Liberalen. Oder auch der Zusammenschluss engagierter Katholiken in der CDU. So etwas schafft Reibung, muss aber nicht negativ sein. Es zeigt, dass die christliche Position eine Haltung ist, mit der man sich auseinandersetzen muss.

KNA: Muss das katholische Profil in der Union deutlicher werden?
Jüsten: Wenn das Evangelium und die Grundlagen der kirchlichen Soziallehre in der Partei nach wie vor die prägende Kraft sind, würde ich mich darüber sehr freuen. Aber da sollte es um die ganze Bandbreite dessen gehen, was die katholische oder die evangelische Kirche abbildet. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Protagonisten ihr eigenes Katholisch-sein in einer gewissen Verkürzung dessen, was Katholizität ist, als allein seligmachenden Weg ansehen.

KNA: Sie sind nicht nur Repräsentant der Kirche in der Hauptstadt, sondern auch Seelsorger. Wie häufig werden Sie da angefragt?
Jüsten: Da erlebe ich mich wie einen Gemeindepfarrer. Die Menschen kommen zu mir, wie sie zu einem Gemeindepfarrer kommen. Bei einem Trauerfall, auch mal bei einer Hochzeit oder Taufe. Wir haben auch ein regelmäßiges gottesdienstliches Angebot: Dort ist der Zuspruch sicher höher als in einer normalen Gemeinde. Und zu diesen Feiern kommen sehr viele jüngere Leute.

Interview: Christoph Strack