Evangelische Kirche kritisiert Hartz-IV-Äußerungen - Merkel auf Distanz

Westerwelle kämpft um "Gerechtigkeit"

In der "Hartz IV"-Debatte muss Außenminister und FDP-Chef Guido Westerwelle seinen Kampf gegen "Sozialismus" und "spätrömische Dekadenz" ohne Bundeskanzlerin Angela Merkel führen. Die Regierungschefin geht auf Distanz zu ihrem Vizekanzler. Auch Präses Nikolaus Schneider kritisiert ihn scharf. Westerwelle indes verteidigt sich.

 (DR)

"Es ist nicht redlich, wenn Guido Westerwelle Geringverdiener gegen Hartz IV-Bezieher ausspielen will", sagte der stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland den Zeitungen der WAZ-Mediengruppe (Samstagausgabe). Das wahre Problem sei nicht Hartz IV sondern das Lohnniveau in Deutschland. Es gebe zu wenig tariflich bezahlte Arbeitsplätze.

Schneider vermutet die "allgemeine Nervosität der FDP" als Grund für die Attacken des Bundesaußenministers. Dessen Motiv sei durchschaubar: "Weil das Bundesverfassungsgericht bewusst keine neuen Regelsätze vorgeschlagen hat, sondern nur die Berechnung als falsch bezeichnete, will der FDP-Vorsitzende mit seiner Polemik verhindern, dass es zu höheren Leistungen kommt", sagte Schneider. Westerwelle brauche Sparpotenzial für seine Steuerpläne.

Der Präses der rheinischen Landeskirche nannte es dagegen ermutigend, dass Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) angedeutet habe, dass es im Bereich Bildung für Kinder "durchaus Mehrbedarf" gebe. Dies decke sich mit internen Berechnungen von EKD-Experten, die eine "moderate, nicht astronomische Anhebung der Regelsätze für notwendig halten". Mit seiner Kritik zeige Westerwelle, "dass er die Welt da draußen nicht kennt", sagte Schneider den Zeitungen.

Westerwelle legt nach
Vize-Regierungssprecherin Sabine Heimbach sagte in Berlin auf die Frage, was Merkel von den Äußerungen Westerwelles halte: "Das ist sicher weniger der Duktus der Kanzlerin." Die "Sprachführung" sei aber "individuell unterschiedlich". Heimbach betonte zugleich, in der Bundesregierung herrsche "Einvernehmen, dass es um eine schnelle Umsetzung des "Hartz IV"-Urteils geht.

Der FDP-Chef legte derweil am Freitag nach: "Diejenigen, die die Leistungsbereitschaft der Bürger mit Füßen treten, sollten sich entschuldigen". Man müsse auch auf jene achten, die den Sozialstaat bezahlen: "Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Das muss man sagen dürfen. Alles andere ist Sozialismus." Kleine und mittlere Einkommen dürften nicht länger "die Melkkühe der Gesellschaft" sein, sagte Westerwelle. Die wütenden Reaktionen aus dem linken Lager zeigten, dass er "den Finger in die Wunde gelegt" habe.

Zugleich verteidigte Westerwelle seine Wortwahl. "Ich spreche die Sprache, die verstanden wird", sagte er. Der Außenminister hatte auch gesagt, wer dem Volk "anstrengungslosen Wohlstand" verspreche, lade zu "spätrömischer Dekadenz ein". Als neues Beispiel dafür nannte er nun die Verlosung von Plätzen an Gymnasien: "Das sind dekadente Erscheinungen."

Opposition fordert Entschuldigung
Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) forderte Westerwelle auf, sich bei "Hartz IV"-Empfängern zu entschuldigen. Seine Äußerungen wertete er als "Versuch, auf eine sehr billige Weise, Beifall zu heischen." Auch DGB-Chef Michael Sommer sagte: "Es ist für einen Vizekanzler unangemessen, Millionen von 'Hartz IV'-Beziehern so zu diffamieren."

Linkspartei-Vize Klaus Ernst warf dem FDP-Chef "offene Verfassungsfeindlichkeit" vor. Die Kanzlerin müsse sich fragen, ob Westerwelle als Außenminister tragbar sei, ohne einen Ansehensschaden der Bundesrepublik zu riskieren. Linke-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch sagte: "Wie schlecht muss es um die FDP stehen, dass sich ihr Vorsitzender Westerwelle so dermaßen im Ton vergreift."

Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte: "Der Vizekanzler und Außenminister versteht die Grundprinzipien unseres Sozialstaats nicht und sie sind ihm offensichtlich auch wurscht." Grünen-Fraktionschefin Renate Künast sagte: "Diese Sozialhetze ist eines Vizekanzlers und deutschen Außenministers unwürdig."