Bundesverfassungsgericht hält Hartz-IV-Sätze für Kinder für verfassungswidrig

Nachhilfe aus Karlsruhe

Die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder verstoßen gegen das Grundgesetz. Das hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag in Karlsruhe entschieden. Die Bundesregierung muss die Höhe der Leistungen für Kinder bis Ende des Jahres neu berechnen. Bis dahin gelten die bisherigen Regelsätze. Das Urteil hat unmittelbare Auswirkungen auf rund 1,7 Millionen Mädchen und Jungen.

 (DR)

Das Urteil stellt auch die weiteren Berechnungen von Hartz-IV-Leistungen infrage. Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sagte in der Urteilsbegründung, die bisherigen staatlichen Leistungen für Kinder wie Erwachsenen gewährleisteten nicht das Recht auf ein "menschenwürdiges Existenzminimum". Das Existenzminimum müsse auch eine Mindesteilnahme von Leistungsempfängern am gesellschaftlichen Leben berücksichtigen.

Bislang wurde der Bedarf für Kinder und Jugendliche nicht eigenständig errechnet. Sie erhalten je nach Alter zwischen 60 und 80 Prozent der Hartz-IV-Leistungen für Erwachsene. Kindern unter sechs Jahren stehen 215 Euro zu, im Alter bis zu 13 Jahren gibt es 251 Euro. Jugendliche erhalten bis zur Volljährigkeit 287 Euro. Insgesamt leben 6,7 Millionen Menschen in Deutschland von Hartz IV.

Kein Vorschlag für Neuberechnung
Ein konkretes Verfahren zur Neuberechnung der Regelsätze schlug das oberste Gericht nicht vor. Die Leistungen müssten auf Grundlage "verlässlicher Zahlen" und "tragfähiger Berechnungen" erbracht werden. Schätzungen "ins Blaue hinein" seien verfassungswidrig, sagte Papier.

Geklagt hatten drei Familien im Jahr 2005. Sie hatten argumentiert, dass die Regelsätze für Kinder unter 14 Jahren von damals 207 Euro willkürlich festgelegt seien und das Existenzminimum nicht abdeckten. Außerdem werde der Gleichheitsgrundsatz verletzt, da Kinder von Sozialhilfeempfängern einen zusätzlichen Bedarf geltend machen können, Kinder von Arbeitslosengeld-II-Empfängern jedoch nicht.

Das Hessische Landessozialgericht in Darmstadt und das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel bezweifelten in den Verfahren die Rechtmäßigkeit der Regelsätze für Kinder und riefen das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe an.

Paritätischer Verband: Schallende Ohrfeige für die Bundesregierung
Als schallende Ohrfeige für die Bundesregierung hat der Paritätische Wohlfahrtsverband das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet. Der Verband erwartet nun eine deutliche Anhebung der Kinder-Regelsätze. "Es ist ein Skandal, dass Richter die Würde des Kindes vor dem Gesetzgeber und der Bundesregierung schützen müssen", erklärte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, am Dienstag in einer ersten Reakton auf das Urteil in Berlin: "Von der manipulativen und willkürlichen Festsetzung der Regelsätze für Minderjährige hat das Gericht glücklicherweise nichts übriggelassen."

Eine "ehrliche, sachgerechte und transparente" Herleitung der Regelsätze aus der Einkommens- und Verbrauchsstatistik wird nach Ansicht des Verbandes zu deutlich höheren Regelsätzen führen. Nach Angaben des Paritätischen beinhalten die derzeitig gültigen Regelsätze nicht einmal Ausgaben für Bildung oder für Windeln. Nach Berechnungen des Verbandes müssen die Regelsätze je nach Altersgruppe um bis zu 20 Prozent angehoben werden: für Kinder unter sechs Jahren von 215 auf mindestens 254 Euro, für die Sechs- bis 13-Jährigen von 251 auf 297 Euro und für Jugendliche ab 14 Jahren von 287 auf 321 Euro. Hinzu kämen die vom Bundesverfassungsgericht ab sofort angemahnten einmaligen Leistungen bei Härtefällen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband verlangte zudem, das Existenzminimum zukünftig regelmäßig durch den Bundestag beschließen zu lassen. "Es kann nicht sein, dass die Würde des Menschen in ministeriellen Hinterzimmern definiert wird. Das Existenzminimum ist die entscheidende Kennziffer im Sozialstaat", erklärte Schneider.

DGB fordert Programm gegen Verarmung
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen begrüßt.
"Heute ist ein guter Tag für die Kinder und Familien in Deutschland", sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach am Dienstag in Karlsruhe. Das Gericht habe klargestellt, dass Hartz IV nicht armutsfest ist und die Regelsätze an die Lebenswirklichkeit angepasst werden müssen.

Buntenbach rief die Bundesregierung auf, die Regelsätze rasch und in einem transparenten Verfahren anzuheben. Dazu schlägt der DGB eine unabhängige Kommission vor, über deren Empfehlungen der Gesetzgeber entscheiden sollte und nicht wie bisher Ministerialbürokraten hinter verschlossenen Türen.

Die notwendige Anhebung der Regelsätze muss laut Buntenbach zwingend verbunden werden mit der Beseitigung von Lohndumping und dem Eindämmen des Niedriglohnsektors. 1,3 Millionen Arbeitnehmer dürften nicht länger zu Bedürftigen gemacht werden, weil Arbeitgeber keine Existenz sichernden Löhne zahlten, so das DGB-Vorstandsmitglied.

Sie forderte die Bundesregierung zu einem Sofortprogramm gegen Armut auf. Dazu gehörten unter anderem die bessere Absicherung bei Arbeitslosigkeit, der Ausbau von Kinderzuschlag und Wohngeld, höhere Regelsätze und die Einführung von existenzsichernden Mindestlöhnen.