Missbrauchsfälle: Thissen fordert größere Wachsamkeit in Kirche

"Es ist furchtbar, ganz furchtbar"

Nach Bekanntwerden mehrerer Fälle von sexuellem Missbrauch durch Jesuitenpatres hat der Hamburger Erzbischof Werner Thissen die Kirche zu noch größerer Wachsamkeit bei dem Thema aufgerufen. "Ich bitte immer wieder alle Mitarbeiter des Erzbistums, ein wachsames Auge zu haben. Ein Aufruf zum Bespitzeln ist das nicht", sagte Thissen dem "Hamburger Abendblatt".

 (DR)

Jeder, der mit Anschuldigungen komme, werde sehr ernst genommen, erklärte der Erzbischof. «Die Kirche tut damit auch der Gesellschaft einen Dienst, indem wir mit solchen Übergriffen sehr sorgsam umgehen und alles für eine lückenlose Aufklärung tun».

Persönlich zeigte er sich von den Missbrauchsfällen tief bestürzt. «Es haut mich um. Es ist furchtbar, ganz furchtbar», so Thissen. Es bedürfe starker geistiger und psychischer Anstrengung, ruhig und sachlich mit den Vorfällen umzugehen. Dabei denke er nicht zuerst an den Schaden für die Kirche, der immens groß sei. «Viel mehr denke ich an den Schaden für die einzelnen Betroffenen», sagte der Theologe.

Weiter forderte Thissen, sämtliche Fälle müssten konsequent und umfassend aufgeklärt werden. Dabei müsse die Kirche eine «Vorreiterrolle» übernehmen. Er habe sich beim Leiter der Jesuiten in Deutschland über Stand und Maßnahmen der Ermittlungen informiert.

Je nach Ergebnis stelle sich die Frage, ob die Kirche noch mehr zur Verhinderung und Aufklärung von Missbrauchsdelikten tun müsse. Das gelte auch für die Priesterausbildung, wo das Thema seit Jahren eine wichtige Rolle spiele. «Wir sind es dem Priesternachwuchs schuldig, sich intensiv bewusst zu werden: Auf was lasse ich mich ein?», so Thissen.

Bischöfe machen Missbrauch zum Thema ihrer Vollversammlung
Die deutschen Bischöfe wollen sich auf ihrer bevorstehenden Vollversammlung in Freiburg mit dem Missbrauchsskandal bei den Jesuiten beschäftigen. Das gab der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, am Mittwoch in Bonn bekannt. «Wir werden uns dafür einsetzen, dass die von uns 2002 verabschiedeten Richtlinien konsequent umgesetzt werden», so Zollitsch. «Unser Mitgefühl gilt den Opfern sexuellen Missbrauchs, von denen wir bisher erfahren haben. Für die eindeutige Entschuldigung des Jesuitenprovinzials bin ich dankbar. Auf der Vollversammlung in Freiburg werden wir uns erneut mit dem Thema sexuellen Missbrauchs befassen.»

Bischof Norbert Trelle ist bedrückt
Die Fälle sexuellen Missbrauchs im Bistum Hildesheim erfüllen Bischof Norbert Trelle nach eigenen Worten „mit Scham und Empörung" und bedrücken ihn zutiefst. „Im Namen der Kirche von Hildesheim drücke ich den Opfern mein tief empfundenes Mitgefühl aus", schreibt Bischof Trelle wörtlich in einem Brief an alle Pfarrgemeinden des Bistums.

Das Bistum werde alles daran setzen, für Aufklärung zu sorgen, verspricht der Bischof. Zu Recht könne man von der Kirche erwarten, dass sie alles unternehme, um solche Taten zu verhindern. Dazu gehöre, dass sie Hinweisen auf sexuellen Missbrauch nachgeht. Es ist gut, so Trelle weiter, dass die Dinge, die lange unter der Oberfläche geblieben sind, nun offen angesprochen werden, „auch wenn dies für alle Seiten schmerzlich ist". Aber nur so könne es zu einer ehrlichen Aufarbeitung kommen. Zugleich bittet das Hildesheimer Bistumsoberhaupt eventuell weitere Geschädigte, sich zu melden, denn „allen Opfern bieten wir Begleitung und Hilfe an."

Zuletzt bittet Trelle, vom Einzelfall nicht auf einen ganzen Berufsstand zu schließen. „Die ganz große Mehrheit unserer Priester versieht ihren Dienst mit Anstand und großer Achtung vor den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen", weiß der Bischof. „Bitte lassen Sie Ihre Seelsorger, die oft selbst unter den jüngsten Entwicklungen leiden, in dieser schwierigen Zeit nicht allein", lautet Trelles Appell.

Pater Klaus Mertes: Verrat an unserer Spiritualität
Der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, sieht in den bislang bekannten Missbrauchsfällen nur «die Spitze des Eisbergs». Was in dem Jesuitengymnasium sichtbar geworden sei, passiere auch an anderen Schulen, «nicht nur an katholischen», sagte Mertes dem Berliner «Tagesspiegel» (Mittwoch). Zugleich kritisierte er die öffentliche Debatte über die Vorfälle. «Da schwingt im Moment auch viel Voyeurismus mit.»

Er fürchte, so richtig ernst werde das Problem sexuellen Missbrauchs immer noch nicht genommen, betonte der Jesuit. Er sprach sich für eine unabhängige Beschwerdestelle an jeder Schule aus, um Missbrauch aufzudecken. Der Canisius-Rektor distanzierte sich auch vom «Mythos» des Elitegymnasiums. Dieser sei «eine merkwürdige Mischung aus Überidentifikation mit der Schule bei gleichzeitigem Misstrauen». Dieser Mythos habe «etwas so Lächerliches».

Die Aufdeckung von sexuellen Übergriffen von Jesuiten an mindestens 20 Schülern während der 70er und 80er Jahre wertete Mertes als «Schlüsselerlebnis» für das Canisius-Kolleg. Es stehe in einer Reihe mit der Gründung, der Schließung durch die Nazis, der Wiedereröffnung nach dem Krieg und der Aufnahme der ersten Mädchen.

Ein Schlüsselerlebnis und eine «absolute Katastrophe» seien die Missbrauchsfälle auch für die Jesuiten. Es «ist der schlimmste Verrat an unserer Spiritualität», sagte Mertes. Er betonte, wütend sei er nicht so sehr auf die Täter. «Die sind mir viel zu fremd. Aber das Schweigen, das Wegsehen macht mich zornig».