Der Rektor des Canisius-Kollegs zur Aufklärung der Missbrauchsfälle

"Ich bin überwältigt von Scham"

Der Ordensführer der Jesuiten in Deutschland, Stefan Dartmann, beantwortete heute im Berliner Canisius-Kolleg in einer Pressekonferenz Fragen zum Missbrauchs-Skandal (siehe oben). Im folgenden Interview spricht der Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, Pater Klaus Mertes, von der Verantwortung des Ordens und der Kirche.

 (DR)

domradio: Der öffentliche Druck auf Ihre Schule und auch den Jesuitenorden wächst stetig. In welcher Form versuchen Sie im Moment die Aufklärung um die Missbrauchsfälle voranzutreiben?
Mertes: Der entscheidende Punkt ist, dass die Aufklärung nicht nur eine Aufklärung der Missbräuche ist, sondern entscheidend ist die Frage, was die Verantwortlichen, das sind: die Oberen, eventuelle Therapeuten, gewusst haben, und diese Aufklärung kann ja nicht von uns selbst stattfinden, dann müssten wir gegen uns selbst aufklären. Also gibt es eine Beauftragte, die neben der Mediation zwischen den Opfern und den Tätern auch zuständig dafür ist, diese Recherche zu tun, und das geschieht zurzeit. Und der Bericht wird demnächst vorliegen.

domradio: Am Wochenende hat Provinzial Dartmann bestätigt, dass der Orden selbst sogar schon 1991 vermutlich Kenntnisse von den Straftaten hatte. Warum hat es so lange gedauert der Sache auf den Grund zu gehen?
Mertes: Die Aussage die Pater Dartmann gemacht hat, wird er vermutlich heute noch einmal präzisieren. Also dazu kann ich im Augenblick überhaupt nichts sagen, dazu kommt ja Pater Dartmann hierher. Aber es ist ja die Erfahrung der Opfer selbst, dass zum Missbrauch auch das Wegschauen der Institutionen selbst gehört. Und ich gehe davon aus, dass das Wissen schon viel früher als 1991 da war.

domradio: Machen Sie Ihren Vorgängern Vorwürfe?
Mertes: Nein, es geht nicht um moralische Vorwürfe und Fingerzeige. Sondern hier geht es darum, die Fragen, die die Opfer an die Institution haben, einschließlich des Jesuitenordens und der Katholischen Kirche, wirklich ernst zu nehmen und anzunehmen.

domradio: Wie geht es ihnen selbst bei so einer Geschichte, die jetzt ans Tageslicht kommt und enttabuisiert wird.
Mertes: Ich bin überwältigt von Scham.

domradio: Sie selbst haben ja angegeben, dass Sie bereits 2004 von einigen Fällen erfahren haben. Sie haben auch gesagt, dass Sie den Opfern Stillschweigen versprochen haben. Haben Sie denn nicht voraussehen können, dass dieser Vorfall weite Kreise ziehen könnte?
Mertes: Ja, aber was bedeutet das? Welche Konsequenzen soll ich daraus ziehen? Wenn ein Opfer zu mir kommt und mit mir spricht - es waren zwei - eins im Jahr 2006 und das andere im Jahre 2008, wie ich inzwischen genauer recherchiert habe, und mich bitten, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, ihre Geschichte anzuhören und ich ihnen diese Siegel der Verschwiegenheit zusage. Weil sie ja sonst gar nicht sprechen würden. Und wenn dann im Gespräch ein letzter Schritt möglich ist, durch den dann ein Opfer herauskommt und strahlend zu mir sagt: "Ich danke Ihnen für diese Gespräch. Es macht es mir möglich, endlich diese Sache hinter mir zu lassen und diesen Schatten aus meinem Leben wegzunehmen." Dann ist nicht die wichtigste Frage, die ich habe: so, was kommt jetzt als Nächstes?

Dann ist meine einzige Aufgabe, dass ich die Sache diskret so weitermelde, damit ich nachprüfen kann, ob der Täter, von dem mir berichtet wurde, der vor 20 oder 30 Jahren einen Missbrauch betrieben hat, heute noch in einem Bereich tätig ist in dem er weiter tätig werden könnte. Ich habe dann sofort eine Verantwortung für potenzielle Opfer in der Gegenwart. Also da gibt es an der Stelle natürlich eine Meldepflicht, die sich aus einem solchen Gespräch ergibt. Obwohl ich zugleich eine Zusage der Diskretion gegeben habe: Das ist eine ganz komplexe Entscheidungssituation. Gespürt in der Magengegend habe ich immer, dass irgendwann mehr kommen wird.

domradio: Es sieht ja nun so aus, also ob auch das Jesuitenkolleg in St. Blasien betroffen sei. Ein früherer Pater, der ja bereits Taten in Berlin gestanden hat, hat dort in den Achtziger Jahren unterrichtet. Wieso wurde dann dieser betreffende Pater versetzt und nicht angezeigt oder entlassen?
Mertes: Ja, da ist ja das Versagen der Institution. Missbrauch hat eben immer zwei Aspekte. Und das predigen alle, die mit Missbrauch zu tun haben, schon seit Jahren. Und diese beiden Aspekte sind: erst einmal die Tat selbst und zweitens das Wegschauen. Nehmen sie einfach einmal diesen konkreten Fall, wo es ja inzwischen notorisch ist. Wenn er nach eigener Aussage damals schon die Dinge gesagt hat und ausgesprochen hat, dann ist natürlich die große Frage: Warum wurde der dann wieder in einer Schule eingesetzt?  

Das ist ja nicht nur die Frage, die wir haben, sondern, das ist ja vor allem die Frage, die die Opfer haben. Die Opfer werden durch den Umgang der Institution mit dem Täter weiter verletzt und zwar jetzt durch die Institution. Und das muss die Institution begreifen. Das ist der entscheidende Punkt. Es geht nicht darum, mit dem Finger auf Verantwortliche zu zeigen, sondern es geht darum, dass die Institution, zu der ich selbst gehöre und wo ich mich ja selbst prüfend mit einschließen muss.: Was ist denn an mir nicht in Ordnung, dass ich so mit einem Täter umgehe, dass ich auf die Weise, wie ich mit dem Täter umgehe zugleich auch wieder das Opfer verletzt, denn dann bin ich ja selbst Missbrauchstäter. Und das ist die Frage die hier jetzt zur Debatte stellt.