Misereor-Bischof Thissen macht Klimawandel für Haiti-Katastrophe mitverantwortlich und ruft zum Gebet für die Opfer auf

"Gott will uns auch sagen: Menschen überlegt!"

Nach dem verheerenden Erdbeben auf Haiti ist die internationale Hilfe angelaufen. Auch Misereor ist vor Ort. Das katholische Hilfswerk bemühe sich um Ernährungssicherung, so Misereor-Bischof Werner Thissen. Im domradio-Interview am Freitag macht der Hamburger Erzbischof den Klimawandel für die Katastrophe mitverantwortlich - und ruft zu Gebet und Spenden auf.

 (DR)

domradio: Was können wir in Deutschland tun?
Thissen: Für mich sind die wichtigsten Stichpunkte: Beten und Helfen, beides ist wichtig - auch wenn wir im Augenblick von Misereor aus nur sporadischen Kontakt nach Haiti herstellen können, wissen wir, dass es notwendig, Mittel bereitzustellen. Das tut Misereor selber auch, deshalb rufe ich gerne zu Spenden auf. Wir werden einen im Umgang mit Erdbeben erfahrenen Mitarbeiter entsenden, der hilft, dass nun wirklich erdbebensicher gebaut wird. Denn das hätte an der Katastrophe doch Manches lindern können. Ein anderer Punkt, der für uns wichtig ist: Wir versuchen über die Dominikanische Republik an die Grenze zu kommen, um auch die vielen Flüchtlinge betreuen zu können. Denn da sind Not und Elend auch riesig groß.

domradio: Sie sagen, es ist schwer, Kontakt zu ihren Mitarbeitern herzustellen. Können Sie dennoch sagen, was die gerade leisten?
Thissen: Die sind dort, um für Ernährungssicherung und Landwirtschaft zu sorgen. Und auch für ein Krankenhaus, das Gott sei Dank nicht beschädigt wurde, wie ich gerade erfahren habe. Und es geht darum, all die vielen Kinder einzusammeln, die ohnehin schon oft als Straßenkinder ohne Heimat sind.

domradio: Es gibt kaum Infrastruktur im Land, die bei der Hilfe unterstützen kann...
Thissen: Ja, das verstärkt natürlich die furchtbare Situation. Wichtig ist jetzt, dass wir als Hilfsorganisationen kühlen Kopf behalten, denn die Organisation der Hilfe ist in der Tat enorm schwierig, weil alles, was wir uns hier als Möglichkeiten vorstellen, zum größten Teil nicht vorhanden ist. Umso wichtiger ist es, dass es besonnene Menschen gibt, die mit der einheimischen Bevölkerung mithelfen, damit das größte Leid und die größte Not gelindert werden. Für mich gehört dazu auch die Trauer um die vielen Toten, aber auch die Trauer um meinen Amtsbruder, den Erzbischof von Port-au-Prince, der ein ganz liebenswürdiger Mann war.

domradio: Stellen Sie sich vor, sie würden gefragt: Wie kann Gott das zulassen? Was würden sie antworten?
Thissen: Ich würde ihnen zunächst sagen, dass ich das Gott selbst auch frage: Wie kannst Du das zulassen, solch ein enormes Leid? Es ist die Frage des Hiob, die heute unsere Frage ist: Warum kann das passieren? Aber ich würde auch dazu sagen: Gott lässt uns Menschen nicht im Stich. Aber er will uns auch sagen: Menschen überlegt, wie könnt ihr in Zukunft auch helfen, damit nicht weitere Klimakatastrophen sich in diesem Ausmaß ereignen.

domradio: Ist das Erdbeben eine Folge der Klimakatastrophe?
Thissen: Das kann man nicht eins zu eins so umsetzen. Aber dass die Klimaveränderungen zu solch gewaltigen Katastrophen enorm beitragen, ist unbestritten.

Das Gespräch führte Tommy Millhome.

Aktuell
Auf dem Flughafen der Hauptstadt Port-au-Prince landeten laut internationalen Medienberichten mehrere Dutzend Hilfsflugzeuge. Wegen des schlechten Zustands der Infrastruktur geht die Hilfe aber nur schleppend voran. Der Flughafen war zeitweise mit der Abfertigung der landenden Maschinen überfordert.

Helfer in Haiti berichten weiter von dramatischen Zuständen. Sie rechnen mit Zehntausenden Toten. Das Rote Kreuz schätzt die Zahl der Todesopfer auf 45.000 bis 50.000. Offizielle Zahlen über das Ausmaß der Katastrophe gibt es weiter nicht.

Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) will an diesem Freitag eine mobile Klinik in das Krisengebiet schicken. Damit könne die die medizinische Versorgung von 30.000 Menschen sichergestellt werden, teilte das DRK mit. In der Klinik werde ein achtköpfiges Team aus Ärzten, Krankenschwestern, einer Hebamme und Technikern gemeinsam mit einheimischen Helfern arbeiten. Auch Caritas international und die Diakonie Katastrophenhilfe kündigten für Montag einen gemeinsamen Hilfsgüterflug nach Haiti an.

Unterdessen wird die Lage vor Ort immer dramatischer. Reporter und Helfer berichten von Leichenbergen auf den Straßen, fehlendem Trinkwasser, Nahrungsmitteln und Medikamenten. Auch habe die Frustration und der Ärger der Menschen zugenommen. Es sei mit der Aushebung von Massengräbern begonnen worden. Es herrscht ein teilweise unerträglicher Leichengeruch in den Straßen.

Die Kommunikationsnetze seien zusammengebrochen und erschwerten erste Hilfsmaßnahmen; die meisten Straßen seien unpassierbar, beklagt Caritas international. Unzählige Verletzte warteten derzeit auf medizinische Hilfe, Tausende Menschen würden noch unter den Trümmern vermutet. Haiti, der ärmste Staat der westlichen Hemisphäre, sei in keiner Weise auf die Katastrophe vorbereitet.

Zudem kämen nun auch aus ländlichen Regionen Meldungen von schweren Zerstörungen, so Caritas und Diakonie. Bisher war davon ausgegangen worden, dass vor allem die Hauptstadt Port-au-Prince betroffen gewesen sei.

Trauerfeiern stellen Kirche vor Herausforderung
Nach dem verheerenden Erdbeben stellen Trauerfeiern für eine noch immer unbekannte Zahl von Todesopfern die katholische Kirche vor eine große Herausforderung. Auch im Katastrophenfall müsse für jeden Verstorbenen ein "würdiges Begräbnis" garantiert werden, sagte Markus Graulich von der Apostolischen Signatur, dem Obersten vatikanischen Gerichtshof, am Freitag dem epd in Rom. Laut Kirchenrecht sind Beisetzungen "nach den Maßgaben der liturgischen Gesetze zu feiern".

Für die Spendung aller Sakramente existierten verkürzte aber dennoch gültige "Notformen", erklärte der Kirchenrechtler im Rang eines Staatsanwalts auf Anfrage. Unabhängig davon, ob eine liturgische Trauerfeier für einen einzelnen Toten oder für zahlreiche Verstorbene abgehalten werde, müsse sie einen Segen des Priesters beinhalten. Zur kirchlichen Mindestanforderung einer würdigen Feier gehören nach den Worten des Salesianerpaters zudem eine Segnung des Grabes, ein Verabschiedungsritus, der an die Taufe erinnere sowie die Erinnerung an die Vergänglichkeit des Menschen.

Die vor allem in der Jugendarbeit engagierten Salesianer verzeichnen in Haiti eine verhältnismäßig hohe Zahl von Erdbebenopfern. Zwei Mitglieder des Ordens sind nach Informationen des vatikanischen Kirchenrechtlers bei der Naturkatastrophe ums Leben gekommen. Über den Verbleib eines weiteren gibt es bislang keine Informationen. Eine Salesianer-Schule ist über 200 Schülern eingestürzt. Für die Toten plant der Orden eine große Trauerfeier.