Jugendliche entdecken Bahnhofsmissionen als Orte der Zuflucht

Wenn es Zuhause einfach nicht mehr geht

Fast 1.900 Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren suchten 2008 die Offenburger Bahnhofsmission auf. Ihr Träger ist IN VIA, der katholische Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit. 2008 haben sich bundesweit rund 330.000 junge Erwachsene an die Bahnhofsmissionen gewandt. Im Jahr zuvor waren es noch 200.000. Ist das ein guter oder schlechter Trend?

Autor/in:
Ingrid Jennert
 (DR)

Maria* lebte bei ihrer Großmutter. Doch dann flog sie aus deren Wohnung, weil der Oma Marias neuer Freund nicht gefiel. Der Freund brachte das Mädchen zur Bahnhofsmission in Heidelberg. «Bei uns melden sich oft Jugendliche und junge Erwachsene, die nicht wissen wohin», sagt Anneliese Haberacker, die Leiterin der Bahnhofsmission. Maria ist kein Einzelfall: Immer mehr junge Erwachsene suchen Zuflucht und Ruhe in den bundesweit 99 Bahnhofsmissionen.

«Da bist du ja Hardy*», begrüßt Rainer König, Leiter der Offenburger Bahnhofsmission einen etwa 15-jährigen Jugendlichen, an der Tür. Der Junge fühlt sich offensichtlich wie zu Hause in dem kleinen, gemütlich eingerichteten Raum am Bahnsteig Eins. An einem der Tischchen sitzt bereits seine Schwester Melanie*. In 40 Minuten wird ihr Zug ins nahe Renchen abfahren. Dort wohnen die Geschwister der beiden. «Hardy und Melanie überbrücken schon seit etwa vier Jahren ihre Wartezeit hier bei uns», berichtet König. Die Eltern schickten ihre Kinder ganz bewusst in den Ruheort im Bahnhof.

Behüteter als im Elterhaus
Viele der Jugendlichen, die hierher kommen, leben in ihrem Elternhaus weniger behütet, erzählt der Leiter. Sie haben häusliche Gewalt oder Alkoholabhängigkeit der Eltern kennengelernt, werden nicht selten vernachlässigt. König ist ihr Ansprechpartner, Ratgeber und manchmal einzige Vertrauensperson. «Meistens gibt es um die Mittagszeit nach Schulschluss keinen freien Stuhl mehr im Raum.» Bis zu 14 Kinder und Jugendliche fänden sich dann ein. Manche von ihnen seien «sehr schwierig». König will künftig Angebote entwickeln, die er «Pausen» nennt. Eine Leseecke etwa für eine «Literaturpause».

Manche junge Leute hätten ihren Schlafplatz in Bahnhofsnähe und kämen rein, um sich aufzuwärmen, zu telefonieren oder um eine Auskunft zu bekommen, berichtet Anneliese Haberacker. Viele nutzten einfach die Möglichkeit, Ruhe zu finden und allein zu sein. Die Bahnhofsmission sei der einzige überdachte und konsumfreie Raum im Bahnhof. «Die jungen Leute haben oft Hunger, denn sie leben häufig nur vom Betteln», sagt Haberacker. Auch Zwangsräumungen führten oft dazu, dass junge Erwachsene auf der Straße stehen: «Manche laufen einfach weg, wenn ihnen Strom und Wasser gesperrt werden, weil sie die Rechnungen nicht bezahlen konnten.»

Seit 14 Jahren macht Haberacker ihren Job und stellt fest, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen zugenommen habe, die unter häuslicher Gewalt leiden. Täglich kämen drei bis vier Jugendliche mit solchen Problemen, berichtet die Leiterin. «Sie finden bei uns Heimat auf Zeit.» Maria erhielt durch Haberackers Vermittlung über die städtische Jugendhilfe einen Platz in einem Heim. Wenn sie volljährig ist, kann sie mit einer Freundin zusammen eine Wohnung mieten.

*Namen geändert