Politik und Kirche kritisieren Kruzifix-Urteil

"Ein schockierendes Urteil"

Das Urteil gegen Kreuze in Klassenzimmern durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof sorgt in Italien und Deutschland weiter für teils scharfe Reaktionen. Die italienische Regierung will gegen den Spruch in Revision gehen. Lob kam dagegen von sozialistischen Politikern. Der Vatikan äußerte Erstaunen und Bedauern. In Deutschland wiesen die Bischofskonferenz und Vertreter aus Kirche und Politik das Urteil zurück. Kapuzinermönch Bruder Paulus Terwitte spricht im domradio-Interview von einem "schockierenden Urteil".

 (DR)

Als «einseitig» und eine «große Enttäuschung» wertet die Deutsche Bischofskonferenz das Urteil. «Das Kreuz ist ja nicht nur religiöses Symbol, sondern auch kulturelles Zeichen», sagte der Sekretär der Bischofskonferenz, Pater Hans Langendörfer, am Mittwoch in Bonn. Das Urteil ignoriere die Bedeutung des Kreuzes in der italienischen Gesellschaft. Der Apostolische Nuntius in Deutschland, Erzbischof Jean-Claude Perisset, erklärte am Dienstagabend in Augsburg, Europa scheine seine christlichen Wurzeln zu vergessen.

Auf die Situation in Deutschland habe die Entscheidung des Gerichtshofs keine Auswirkungen, betonte Langendörfer. Er verwies auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das 1995 die in Bayern vorgeschriebene Anbringung von Kreuzen in Grundschulklassen untersagte. Dort kam Kritik aus der Politik. Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) bezeichnete das Urteil als «unglücklich». Bayerns Europaministerin Emilia Müller (CSU) warf den Straßburger Richtern vor, sie hätten mit ihrem Spruch dem Menschenrechtsgedanken einen Bärendienst erwiesen.

Deutlich wandte sich der Vatikan gegen das Urteil. Das Gericht verkenne die Rolle des Christentums für die Formung der europäischen Identität, sagte Sprecher Federico Lombardi. Der deutsche Kurienkardinal Walter Kasper nannte das Urteil ideologisch und intolerant. Es könne nicht angehen, dass sich die Mehrheit nach einer Minderheit richten müsse, sagte der Präsident des Rates für die Einheit der Christen im Interview der Tageszeitung «Corriere della Sera» (Mittwoch).

Kardinalstaatsekretär Tarcisio Bertone begrüßte das Vorgehen der italienischen Regierung gegen das Urteil. Es gelte, «mit allen Kräften die Zeichen unseres Glaubens zu bewahren, für die Glaubenden und die Nichtglaubenden», sagte der höchste Kirchenvertreter nach dem Papst am Mittwoch vor Journalisten.

Bildungsministerin Mariastella Gelmini bekräftigte am Mittwoch ihre Kritik am Urteil und warf den Straßburger Richtern eine ideologisch verengte Sichtweise des Kruzifixes vor. Es sei keineswegs nur ein religiöses Symbol, sondern ein Symbol der italienischen Kultur, sagte sie der Tageszeitung «La Stampa».

Die stellvertretende Senatspräsidentin Emma Bonino hingegen würdigte das Urteil als «Loblied» auf eine individuelle Religiosität. Sie forderte, dass öffentliche Einrichtungen in Italien gegenüber Religionen neutral bleiben müssten. Das gelte für Schulen, Gerichtssäle und das Gesundheitswesen.