Misereor zu Welternährungsbericht und Welthungerindex

"Hier ist auch die neue Bundesregierung gefragt"

Alarm von gleich zwei Seiten: Sowohl Welternährungsbericht als auch Welthungerindex beklagten am Mittwoch eine steigende Zahl der hungernden Menschen auf der Welt. Im domradio-Interview appelliert der Geschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor deshalb an die Industrienationen. "Da muss etwas geschehen", so Josef Sayer. Hier sei auch die neue Bundesregierung gefragt.

 (DR)

domradio: Sie waren kürzlich in Nigeria, wie haben Sie die Armut dort erlebt?
Sayer: Wir können uns ja kaum vorstellen, dass jede sechste Person auf der Welt hungert. Weltweit sind das  doppelt so viele wie die europäische Bevölkerung zusammen! In Nigeria habe ich vor allem im Norden des Landes erlebt, wie groß der Hunger ist. Anfang November werde ich noch mal in Afrika sein, dann in Niger, einem noch ärmeren Land. Hunger in diesen Ländern heißt ganz konkret, dass menschliches Leben zerstört wird und sich nicht entfalten kann. Ich habe selber zusehen müssen, wie Kinder verhungern. Das ist das Schlimmste - wenn man nichts mehr machen kann.

domradio: Frauen tragen die Hauptlast der Familie, heißt es im Welthungerindex. Woran machen Sie das fest?
Sayer: Frauen bilden den Kern der Familie, deshalb ist besonders wichtig, auf sie zu schauen. Mit der Frau verbinden wir die kleinbäuerliche Landwirtschaft - das ist entscheidend. Vom Westen wird vor allem die großräumliche Landwirtschat gefördert, aber gerade der kleinbäuerliche Bereich muss eigentlich gefördert werden. Da stehen wir als Bundesrepublik und als Misereor besonders in der Pflicht. Es ist doch ein Skandal, dass dort, wo die Nahrungsmittel produziert werden, nämlich auf dem Land, der Hunger am größten ist. Das können wir uns nicht leisten.

domradio: Was benötigen die Kinder in den armen Ländern besonders?
Sayer: Die Kinder sind abhängig von dem, was den Eltern zur Verfügung steht. Sie brauchen genug landwirtschaftliche Nutzfläche, das ist das Entscheidende. Sie müssen dann auch im Technischen gefördert werden. Weitere Punkte sind die Gesundheitsversorgung und eine Schulbildung. Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Als Industrieländer können wir es uns nicht leisten, während der Finanzkrise unmittelbar so viele Milliarden zur Verfügung zu stellen, wegzuschauen, wenn der Hunger weltweit wächst. Da muss etwas geschehen. Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Das muss eine zentrale Herausforderung der Politik sein. Hier ist auch die neue Bundesregierung gefragt. Hier müssen wir auch bei den Koalitionsverhandlungen ansetzen. Wir müssen unsere Politik am Weltgemeinwohl orientieren.

Hintergrund
Laut des diesjährigen Welternährungsberichts ist aufgrund der Wirtschaftskrise die Zahl der hungernden Menschen um 100 Millionen gegenüber dem Vorjahr auf rund 1,02 Milliarden gestiegen. Das erklärten die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) und das Welternährungsprogramm (WFP) am Mittwoch in Rom. Sie forderten verstärkte Investitionen in die Landwirtschaft in armen Ländern.

In Asien und der Pazifikregion leiden dem Bericht zufolge 642 Millionen Menschen an chronischem Hunger, in Afrika südlich der Sahara 265 Millionen. In Lateinamerika und in der Karibik schätzen die UN-Organisationen die Zahl der unterernährten Menschen auf 53 Millionen, im Nahen Osten und in Nordafrika auf 42 Millionen. Selbst in Industriestaaten fehlt es dem Bericht zufolge 15 Millionen Menschen an ausreichender Nahrung.

Eine Ursache für den Hunger ist den UN-Organisationen zufolge der Rückgang von Geldüberweisungen aus Industrienationen in Entwicklungsländer aufgrund der Weltwirtschaftskrise: Während etwa die 17 größten lateinamerikanischen Länder 2007 noch 184 Milliarden US-Dollar aus dem Ausland erhalten hatten, habe sich die Summe 2008 auf 89 Milliarden halbiert. Eine weiterer starker Rückgang sei für 2009 zu erwarten.

"Entschiedene Eingriffe sind nötig"
FAO-Generaldirektor Jacques Diouf betonte, dass Regierungen weltweit innerhalb kürzester Zeit Hunderte Milliarden Dollar bereitgestellt hätten, um die Folgen der Wirtschaftskrise abzufedern. "Ebenso entschiedene Eingriffe sind nötig, um Hunger und Armut zu bekämpfen" sagte er. Die Welt verfüge über die erforderlichen wirtschaftlichen und technischen Mittel, um alle Menschen zu ernähren.

Die WFP-Exekutivdirektorin Josette Sheeran wies daraufhin, dass immer mehr Menschen nicht über genügend Lebensmittel verfügten und es dennoch so wenig Nahrungsmittelhilfe gebe wie nie zuvor. Zu begrüßen sei, dass reiche Staaten zugesagt hätten, mehr Mittel für die Landwirtschaft in Entwicklungsländern bereitzustellen. Die Organisationen wiesen daraufhin, dass sich die Wirtschaftskrise in zahlreichen Regionen der Welt gleichzeitig ausgewirkt habe.

Welthungerindex: Vor allem Frauen hungern
Trotz ihrer Schlüsselrolle bei der Armutsbekämpfung leiden Frauen weltweit am meisten unter Hunger und Armut. Rund 70 Prozent der weltweit 1,4 Milliarden armen Menschen seien Frauen, heißt es in dem am Mittwoch in Berlin vorgestellten Welthungerindex 2009. Der Hunger sei in den Regionen am größten, in denen Frauen am schlechtesten gestellt seien, heißt es in dem Bericht. "Die Stärkung von Frauen ist ein Schlüssel im Kampf gegen Hunger und Armut", erklärte die Präsidentin der Welthungerhilfe, Bärbel Dieckmann.

Die Hungersituation ist laut dem Bericht, der von dem Hilfswerk und dem Washingtoner Ernährungsforschungsinstitut IFPRI herausgegeben wird, in 29 Ländern ernst oder sogar gravierend. Besonders betroffen seien die Menschen in Afrika: Die Demokratische Republik Kongo steht ganz unten auf der Rangliste. Es folgen Burundi, Eritrea, Sierra Leone, Tschad und Äthiopien. Insgesamt hungern weltweit rund eine Milliarde Menschen.

Der Welthungerindex dient den Angaben zufolge als wichtige Messgröße zur Erfassung von Hunger und gibt Aufschluss über Erfolge und Misserfolge in 120 Entwicklungs- und Schwellenländern. Er wurde anlässlich des Welternährungstages am 16. Oktober zum vierten Mal seit 2006 vorgestellt.