Psychiater Manfred Lütz über gelasseneren Umgang mit psychisch Kranken

"Wir verstecken uns häufig in Uniformen"

Für einen gelasseneren Umgang mit psychisch Kranken und Auffälligen in der Gesellschaft wirbt der Kölner Psychiater und Theologe Manfred Lütz in seinem neuen Buch "Irre - Wir behandeln die Falschen". Im domradio-Interview warnt der Bestseller-Autor vor einer Gesellschaft, die Außergewöhnliches "normalisiere".

 (DR)

domradio: Wer sind denn die "Normalen", die behandlungsbedürftig sind?
Lütz: Ich bin jetzt nicht der Meinung, dass man alle "Normalen" auch noch behandeln soll. Ganz im Gegenteil. Man muss mal sehen, dass man nicht aus jedem Tränchen gleich eine Depression macht. Der Gedanke zum Titel des Buches kam mir, als ich mal wieder tagsüber mit rührenden Demenzkranken zu tun hatte: mit Sensiblen, Schizophrenen, Feinsinnigen, Süchtigen, erschütternd Depressiven. Und dann schaue ich abends die Nachrichten und sehe aggressive Kriegshetzer, Wirtschaftkriminelle, rücksichtslose Egomanen. Und dann kommt einem schon mal der ketzerische Gedanke: Möglicherweise behandeln wir die Falschen - unser Problem sind die Normalen!

domradio: Sie gehen soweit zu sagen: Manchmal kann Normalsein ein tragisches Schicksal sein. Wann wird es tragisch?
Lütz: Es wird wirklich dramatisch in Situationen, wo der ganz normale Wahnsinn zu Leuten wie Hitler und Stalin führt beispielsweise. Da sagen die Leute: Die waren ja verrückt. Die waren eben nicht verrückt, das ist ja das Erschütternde! Wenn Hitler verrückt gewesen wäre, hätte man mit ein bisschen Arbeitstherapie für einen arbeitslosen Kunstmaler in München Millionen Tote verhindern können. Aber das Erschütternde an Adolf Hitler war: Er war nicht verrückt. Er war schuldfähig, er war böse, einer der schlimmsten Verbrecher der Menschheitsgeschichte. Und überhaupt: Die großen Kriege, die großen Verbrechen wurden nie von Verrückten gemacht, sondern von so genannten "Normalen".

domradio: Sie beschreiben in Ihrem Buch die vermeintlich "Verrückten" als bereichernd für unsere Welt.
Lütz: Früher war man auch in der Psychotherapie und Psychiatrie so ein bisschen defizitorientiert, nach dem Motto: Sie haben ein Problem, da hätte ich noch eins für sie, frühe Kindheit und so, sie lächeln, was verdrängen sie... Aber wir habe heute so die Haltung, dass wir ressourcenorientiert mit Patienten umgehen, dass wir uns für ihre Fähigkeiten und Kräfte interessieren. Und damit kann man dann viel schneller Patienten aus einer Krise herausführen. Wenn man das mal macht, wenn man mal sieht, welche außergewöhnlichen Fähigkeiten Patienten haben, wie sie schwierigste Lebenskrisen bewältigen, kann man von solchen Situationen schon ganz berührt sein. In meinem Buch geht es darum, dass auch mal in eine breitere Öffentlichkeit zu bringen. Denn die weiß über Psychiatrie erschütternd wenig. Was Magersucht ist, das weiß inzwischen Jeder. Gott sei Dank. Aber was Schizophrenie ist, das weiß eigentlich keiner, obwohl das eine viel häufigere Krankheit ist.

domradio: Sie arbeiten mit  "Verrückten" - gibt es Situationen, in denen Sie mit ihrer Geduld ihnen gegenüber an Ende sind?
Lütz: Natürlich. Psychisch kranke sind ja auch nur normale Menschen - woraus Sie schon merken, dass der Begriff "normal" in meinem Buch etwas ironisch gebrochen ist. Am Ende entschuldige ich mich auch bei allen "Normalen"; bzw. ich sage, ich kann mich gar nicht entschuldigen - ich kenne keinen wirklich normalen Menschen. Jeder Mensch ist außergewöhnlich. Dennoch laufen wir ständig Gefahr, von einer Gesellschaft normalisiert zu werden, die uns in "political correcte" Meinungsuniformen stecken will, die uns auch sonst in alle möglichen Üblichkeiten stopfen will. Und dieses Außergewöhnlich tragen psychisch Kranke direkter auf der Zunge. Und wir verstecken das häufig durch Uniformen und Ähnlichem.

Hören Sie hier das Gespräch in voller Länge: Teil 1 und Teil 2