Vor 20 Jahren: Erste Montagsdemonstration in Leipzig

Der Tag, der alles änderte

Die gesellschaftliche Stagnation war offenkundig, die Flüchtlingszahlen und Anträge auf Ausreise stiegen, doch noch herrschte in der DDR eine relative Ruhe. Das sollte sich mit dem 4. September 1989 grundlegend ändern. An diesem Tage formierten sich nach dem traditionellen Montags-Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche erstmals rund eintausend Oppositionelle zu einem Demonstrationszug in die Innenstadt. Die Geburtsstunde der berühmten Montagsdemonstrationen hatte geschlagen.

 (DR)

Seit Monaten wurde in der DDR in Gruppen und Zirkeln, innerhalb und außerhalb des Daches der Kirche, in der Friedens- und Umweltbewegung erregt über die unübersehbare Krise diskutiert. Selbst in der SED-Mitgliedschaft klagte man verbittert über die Sprachlosigkeit der Parteiführung. Doch nun hatte sich in Leipzig erstmals eine kleine Gruppe Unerschrockener von der bisher schweigenden Mehrheit gelöst und auf der Straße lauthals politische Reformen angemahnt. Auf Transparenten war an jenem denkwürdigen Tag zu lesen: «Für ein offenes Land mit freien Menschen» - «Reisefreiheit statt Massenflucht» und «Wir bleiben hier».

Bisherige Protestbekundungen hatten sich vornehmlich auf die Forderung nach Ausreise in den Westen konzentriert, ihre Urheber hatten mit der DDR bereits abgeschlossen. Nun aber drängten Oppositionelle und Bürgerrechtler in das Licht der Öffentlichkeit und forderten, die DDR radikal zu reformieren und - wie der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer - eine demokratische, soziale und ökologische Gesellschaft, ein «qualitativ neues System des Sozialismus», zu schaffen.

Immerhin hatte auch Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im August brieflich an Staats- und SED-Chef Erich Honecker appelliert, sich mitverantwortlich zu fühlen, «dass die Menschen in ihrer angestammten Heimat ein für sie lebenswertes Leben führen können». Das Interesse der Bundesregierung und sein ganz persönliches Interesse, so schrieb Kohl, bleibe es, «die Beziehungen in einer vernünftigen Weise weiterzuentwickeln, wie wir es bei Ihrem Besuch vor zwei Jahren besprochen haben».

So formierten sich in jenen Wochen in Ost-Berlin ein halbes Dutzend gewichtiger Bürgerbewegungen, darunter das zum Symbol der gesamten Opposition anwachsende «Neue Forum». Dazu gerieten die Leipziger Demonstrationen zu einer Massenbewegung: Am 23. Oktober zogen 300 000 Menschen durch die Innenstadt! Von einer erneuerten DDR war jedoch bald nicht mehr die Rede. «Wir sind ein Volk» und «Deutschland einig Vaterland», hieß es nach dem Fall der Mauer. Helmut Kohl legte Ende November sein 10-Punkte-Programm zur «Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands» vor. Und Anfang Dezember hieß es auf einem Transparent der Leipziger Montagsdemo geradeheraus: «Das 'Neue Forum' ist uns über, wir wollen unser Deutschland wieder».

«Es scheint heute zur festen Lehre zu werden, dass die Bürgerbewegten des Herbstes den Zündfunken abgaben und dann nicht mehr gebraucht wurden, die Unterstützung verloren und von den Ereignissen überrollt wurden, weil sie utopische Ziele vertraten», bilanzierte jüngst in der «Zeit» einer der prominentesten Mitbegründer des «Neuen Forum», der Molekularbiologe Jens Reich. «Dieses Urteil ist nicht richtig», lautete sein Verdikt. Denn der Aufstand der Bevölkerung habe die erste siegreiche und friedliche Revolution der deutschen Geschichte hervorgebracht, habe politische Freiheit und demokratische Bürger- und Menschenrechte hergestellt.