missio-Experte zur Situation der Christen in Indien

"Die Situation ist erschreckend"

Im ostindischen Bundesstaat Orissa sind vor einem Jahr Tausende Christen Opfer pogromartiger Übergriffe durch nationalistische Hindus geworden. Dabei wurden unterschiedlichen Angaben zufolge 60 bis 90 Menschen getötet, 50.000 vertrieben. Die Situation sei weiter erschreckend, sagt Otmar Oehring, Menschenrechtsexperte des kirchlichen Hilfswerks "missio" in Aachen.

 (DR)

Oering sprach am Donnerstag mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) über die Lage der Christen, die Haltung der Regierung und seine Erwartungen an die internationale Gemeinschaft.

KNA: Herr Oehring, Sie sind kürzlich aus Indien zurückgekommen, welche Eindrücke bringen Sie aus dem Bundesstaat Orissa mit?
Oehring: Die Situation ist weiter erschreckend. Die Menschen leben nach wie vor unter erbärmlichen Verhältnissen in Lagern. Es gibt viel zu wenig Zelte. In einem Zelt von fünf mal fünf Metern müssen zehn Familien Platz finden. Andere haben nicht einmal diesen Schutz vor der Regenzeit. Sie leben in notdürftig selbst gebauten Unterkünften.

KNA: Können die Menschen auch ein Jahr nach der Gewalt nicht in ihre Häuser zurück?
Oehring: Nein, das ist nicht so einfach. Selbst wenn die Häuser nicht zerstört wurden, ist eine Rückkehr zu gefährlich. Aus Furcht vor Hindu-Nationalisten können die Menschen auch nicht mehr in ihren alten Läden oder auf den Feldern arbeiten, die Kinder nicht zur Schule gehen. Dabei befinden sich die Lager meist in unmittelbarer Nähe zu den Dörfern. In den Lagern sind die Menschen sicher, weil sie bewacht werden. Allerdings sollen die Schutztruppen bald abgezogen werden. Und die Menschen haben schon Angst, wenn sie das Lager nur kurz verlassen müssen, um etwa zu einer Gerichtsverhandlung zu reisen.

KNA: Trotzdem haben viele die Lager verlassen.
Oehring: Die Zahl der Menschen in den Lagern hat in der Tat stark abgenommen. Das liegt aber daran, dass viele in andere Gebiete gehen. Einige ziehen in nahe gelegene größere Städte, andere gehen in andere Bundesstaaten Indiens. Ich habe nur in einem Fall erlebt, dass eine Familie in ihr Haus zurückkonnte, weil es etwas außerhalb liegt und die Dorfgemeinschaft hinter ihr stand.

KNA: Was tut die Regierung, um Christen zu schützen?
Oehring: Zu Beginn der Übergriffe war die hindunationalistische Volkspartei BJP noch an der Regierung im Bundesstaat Orissa beteiligt und hat dafür gesorgt, dass sich die Polizei mit der Aufklärung der Gewaltfälle zurückgehalten hat. Bei den Parlamentswahlen im Mai hat die BJP jedoch eine vernichtende Niederlage hinnehmen müssen. Nun sagt der Ministerpräsident von Orissa, Naveen Patnaik von der populistischen BJD aber, dass die BJP für die Unruhen verantwortlich gewesen sei und sich die Sache damit erledigt habe. Dabei war er auch während der Unruhen Ministerpräsident, und an der grundlegenden Situation hat sich zudem nichts geändert.

KNA: Es gab aber einige Prozesse. Wie wurden die Gewalttäter belangt?
Oehring: Auf internationalen Druck hin hat die Regierung einige Maßnahmen ergriffen. So hat der Oberste Gerichtshof von Orissa in mehreren Verfahren den Bundesstaat zu konkreten Maßnahmen verpflichtet. Es gibt jetzt ein Schnellgericht für Fälle, die die Christenverfolgung betreffen. Ansonsten beträgt die durchschnittliche Verhandlungsdauer in Indien etwa acht Jahre. Das ist ein Fortschritt. Zugleich bedeutet der Beginn der gerichtlichen Aufarbeitung der Fälle jedoch neue Gewalt für die Christen.

Hindu-Extremisten drohen vielen mit dem Tod, wenn sie ihre Anzeigen nicht zurückziehen und als Zeugen aussagen. Auch die anderen Maßnahmen der Regierung greifen nicht richtig.

KNA: Inwiefern?
Oehring: Es gab zum Beispiel Entschädigungszahlungen an die Opfer. Jeder Betroffene hat 10.000 Rupien (etwa 150 Euro) erhalten. Die gleiche Summe sollen die Menschen erhalten, wenn sie in ihr Dorf zurückkehren. Das ist aber, wie gesagt, praktisch unmöglich, weil zu gefährlich. Die Menschen in den Dörfern kennen sich, wissen, wer ein Christ ist. Neuerliche Übergriffe wären da nur eine Frage der Zeit.

KNA: Was können die Christen tun, um sich zu schützen?
Oehring: Wenig. Der Distrikt Kandhamal in Orissa gilt als Trainingsort für die Aktivisten der radikalen Hindu-nationalistischen Organisation RSS. Es kommt regelmäßig zu Angriffen auf Christen. Von Einzelfällen kann also nicht die Rede sein. Die Gewalt richtet sich gegen die einzige Minderheit in diesem Gebiet Indiens, die Christen.

KNA: Und die Kirche, was kann sie tun?
Oehring: Die Indische Bischofskonferenz hat sich anfangs eine zu große Zurückhaltung auferlegt. Inzwischen ist sie aufgewacht, weil das Phänomen der Verfolgungen von Christen und anderen Minderheiten in andere Bundesstaaten übergreift. Der für Orissa zuständige Erzbischof Raphael Cheenath von Cuttack-Bhubaneswar plant etwa derzeit ein großes Hausbauprojekt für Christen. Aber das kann nicht funktionieren, da ohne Sicherheit keine Familie zurückgeht.

KNA: Was muss passieren, um den Konflikt zu lösen?
Oehring: Angesichts der großen Zahl an Getöteten, Verletzten und Vergewaltigten, sowie des Ausmaßes geraubter und vernichteter materieller Werte und gebrandschatzter Privathäuser und kirchlicher Bauten müsste der Staat eine große Versöhnungsaktion starten. Aber ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden und keine Versöhnung geben. Der Staat muss sich dem Problem ehrlich stellen und zusammen mit den Minderheiten nach einer Lösung suchen. Das wird aber auf jeden Fall sehr lange dauern und kann nicht von heute auf morgen geschehen.

KNA: Sehen Sie auch die internationale Gemeinschaft in der Pflicht?
Oehring: Andere Länder müssen weiter Druck ausüben, das war in der Vergangenheit erfolgreich. So hat sich die indische Regierung dem Thema Christenverfolgung im vergangenen Jahr erst gewidmet, nachdem der indische Ministerpräsident bei einem Besuch in Paris vom französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy darauf angesprochen wurde. Und dem hindu-nationalistischen Regierungschef des Bundesstaates Gujarat, Narendra Modi, wird wegen seiner Verstrickung in die gewalttätigen Ausschreitungen gegen Muslime im Jahr 2002 die Einreise in die USA und die EU verwehrt. Würden die EU und die USA auch dem Regierungschef von Orissa, Naveen Patnaik, wegen seiner Untätigkeit im Zusammenhang mit den Übergriffen auf Christen um Weihnachten 2007 und im August 2008 und seine fortdauernde Untätigkeit im Hinblick auf eine dauerhafte Lösung des Konflikts, keine Einreisevisa geben, käme möglicherweise Bewegung in die Sache.