Die päpstlichen Sozialenzykliken und ihre Geschichte seit 1891

Mit Leo XIII. ging es los

Die Industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts hat die moderne Arbeitswelt von Grund auf verändert. Als Antwort auf die "Soziale Frage", die diese Umwälzungen aufgeworfen haben, legte Papst Leo XIII. 1891 seine Enzyklika "Rerum novarum" vor. Seitdem haben die Päpste regelmäßig die Soziallehre der Kirche gemäß den wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Zeit ausgelegt.

Dr. Guido Schlimbach / © privat (privat)
Dr. Guido Schlimbach / © privat ( privat )

1848: Mit seiner Reihe von Adventspredigten im Mainzer Dom über "Die großen sozialen Fragen der Gegenwart" wird Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877) zum Vorreiter der kirchlichen Sozialverkündigung. Papst Leo XIII. nennt Ketteler 1891 "unseren großen Vorgänger".

1891: Die Enzyklika "Rerum novarum" ("Über die neuen Dinge") ist das erste päpstliche Rundschreiben zur Arbeiterfrage und das grundlegende Dokument der katholischen Soziallehre. Verfasst vor dem Hintergrund der Industriellen Revolution, setzt sich Rerum novarum mit den sozialen Verwerfungen des Sozialismus und des Liberalismus auseinander. Leo XIII. beklagt die oft sklavenähnliche Lage der Arbeiterschaft, wendet sich aber gegen den Klassenkampf und plädiert für eine Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Er verteidigt das Privateigentum, betont aber zugleich seine Sozialverpflichtung. Weitere zentrale Forderungen sind gerechte Löhne und staatlicher Schutz für Arbeitnehmer.

1931: 40 Jahre später aktualisiert Pius XI. in der Enzyklika "Quadragesimo anno" die Lehren von Leo XIII. Unter Einfluss und Mitgestaltung der deutschen Jesuiten Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning richtet er sein Augenmerk vor allem auf die Gesellschaftsordnung aus christlicher Sicht. Pius XI. entfaltet unter anderem das Prinzip der Subsidiarität, nach dem das jeweils gesellschaftlich oder institutionell untergeordnete Glied alle Probleme und Aufgaben möglichst eigenständig lösen soll. Nur wenn die Aufgabe zu groß ist, soll die übergeordnete Instanz in die Verantwortung treten. Zudem grenzt die Enzyklika Christentum und Sozialismus differenziert voneinander ab. Die Quintessenz lautet freilich, es sei "unmöglich, gleichzeitig guter Katholik und wirklicher Sozialist zu sein".

1961: Die Enzyklika "Mater et magistra" ("Mutter und Lehrerin") von Papst Johannes XXIII. haben Zeitgenossen auch als "Mitbestimmungs-Enzyklika" bezeichnet. Sie spricht den Arbeitern ein Recht auf aktive Teilnahme am eigenen Unternehmen zu. Erstmals werden auch Probleme der wirtschaftlich weniger stark entwickelten Länder und damit auch die Frage des Gemeinwohls in globaler Perspektive thematisiert.

1967: Zwei Jahre nach Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils behandelt Papst Paul VI. in seinem wichtigsten Sozialschreiben "Populorum progressio" ("Der Fortschritt der Völker") die Themen Frieden und Gerechtigkeit. In der Enzyklika wird ein gerechter Ausgleich zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern verlangt. Als Schlüsselwort für globale Gerechtigkeit führt Paul VI.
den Begriff der "Entwicklung" in die katholische Soziallehre ein, der auch mehr Teilhabe an Bildung, sozialem und politischem Leben bedeute. Revolution als Mittel dorthin lehnt der Papst ab. Dennoch räumt er "im Fall der eindeutigen und lange dauernden Gewaltherrschaft" auch die Möglichkeit eines legitimen Umsturzes ein..

1981: "Laborem exercens" ist die erste von mehreren Sozialenzykliken von Papst Johannes Paul II. Sie befasst sich mit dem Wert der menschlichen Arbeit und sucht einen "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Analysiert werden soziale Fehlentwicklungen sowohl im bereits brüchiger werdenden kommunistischen System wie auch im wirtschaftlich erfolgreichen Kapitalismus. Mit Blick etwa auf die wachsende Arbeitslosigkeit im Westen betont der Papst unter anderem den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital; mit Blick auf den Kampf der Gewerkschaft "Solidarnosc" erklärt er das Recht auf Gewerkschaften zum unantastbaren Grundrecht. Die Veröffentlichung der Enzyklika verzögerte sich durch das Papstattentat von Ali Agca auf dem Petersplatz im Mai 1981 um vier Monate.

1987: Zum 20. Jahrestag von "Populorum progressio" widmet sich Johannes Paul II. nach dem Gegensatz von Ost und West nun auch dem Nord-Süd-Konflikt. "Sollicitudo rei socialis" ("Die Sorge um das
Soziale") ermahnt die reichen Länder des Nordens zu wirksamer Hilfe.
Zugleich fordert der Papst darin grundlegende Reformen in den Entwicklungsländern ein.

1991: "Centesimus annus": Zum 100. Jahrestag von Rerum novarum - und zwei Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa - rechnet der Papst aus Polen nicht nur mit dem untergegangenen System ab, sondern auch mit den Auswüchsen eines ungezügelten Kapitalismus. Gewürdigt wird erstmals in dieser Deutlichkeit die positive Rolle des Unternehmertums für eine funktionierende Volkswirtschaft. Verfechter des klassischen Konzepts einer Sozialen Marktwirtschaft lasen das Dokument als päpstliches Bekenntnis zu dieser Idee.

2009: Die erste Sozialenzyklika von Benedikt XVI. trägt den Titel "Caritas in veritate" ("Die Liebe in Wahrheit"). Sie beschäftigt sich mit den Folgen der Globalisierung und der Wirtschafts- und Finanzkrise für das menschliche Zusammenleben. Eigentlicher Anlass war der 40. Jahrestag von "Populorum progressio". Das bereits nahezu fertiggestellte Dokument wurde jedoch mehrfach umgearbeitet und aktualisiert, zuletzt nach Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise.