Cem Özdemir ruft Türkei zu Glaubensfreiheit auf

Privatsache Volksislam

Cem Özdemir ist Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Und: Autor des Jugendbuchs "Die Türkei", mit dem er durch die Geschichte der Türkei führt und dabei das Bild einer Nation zeichnet, die ihren Weg zwischen Tradition und Moderne sucht. Im domradio bezeichnet er seinen eigenen Glauben als Privatsache, spricht von einem Volksislam in der Türkei und plädiert für Glaubensfreiheit.

 (DR)

domradio: Aufgrund ihres Vornamens könnte man meinen, dass Sie etwas mit der allevitischen Religion zu tun haben?
Özdemir: Das glauben auch die meisten Alleviten - dem ist aber nicht so. Aber dass sie  glauben und denken 'Der ist bestimmt einer von uns', hängt sehr viel damit zusammen, dass sie türkische Gesellschaft noch immer sehr stark mit ethnischer Herkunft, religiöser Zugehörigkeit, aber auch der örtlichen Identität geprägt ist. Früher waren es mal die Stämme. Die spielen heute noch immer eine Rolle, im Hintergrund. In der Türkei gibt es eine ganz wichtige Frage: Wo kommst Du eigentlich her? Damit will der Fragende wissen: Kommst Du zufälligerweise aus dem gleichen Ort, aus der gleichen Religion wie ich? Dann haben wir eine Gemeinsamkeit, dann verbindet uns etwas unter dem Dach der Türkei. Das spielt eine unglaublich wichtige Rolle für die Bestimmung der Identität. Was die Alleviten angeht, muss man wissen, dass sie über Jahrhunderte hinweg schrecklich unterdrückt worden sind: als Häretiker, ihr Glaube galt als abfällig vom Islam. Insofern kommt da auch so eine Sehnsucht zum Tragen: Da ist einer von uns, der sich möglicherweise für unsere Rechte einsetzt. Ich bin keiner - setzte mich aber trotzdem für die Rechte der Alleviten ein. Ich trage kein Kopftuch, wie man sieht  - setze mich aber für die Rechte der Kopftuchträgerinnen ein. Ich bin keine Frau, wie man hört - setze mich aber für die Rechte von Frauen ein. Ich komme aus einer türkischen, nicht-türkischen Familie - setze mich für deren Rechte ein. Ich bin heterosexuell und glücklich verheiratet - und setze mich für die Rechte von türkischen und kurdischen Lesben und Schwulen ein. Das ist etwas, was in der Türkei noch unüblich ist. Man setzt sich eigentlich immer ein für die, deren Herkunft man teilt. Warum sollte man sich für Leute einsetzen, die nicht die eigene Herkunft haben? Das ist vielleicht der wichtigste Schritt der türkischen Demokratie, das zu lernen. Dass man quasi Empathie empfindet für andere, die nicht so sind, wie man selber ist. Aber das als Grundlage des eigenen demokratischen Verständnisses betrachtet.

domradio: Islam ist nicht immer gleich Islam.
Özdemir: Das wäre jetzt auch schon wieder verkürzt, wenn man sagen würde: Die Alleviten, das sind die Liberalen, und die anderen, das sind die Fundamentalisten und Konservativen und Reaktionäre. Es gibt innerhalb von manchen allevitischen Familien, die aus einer föderalistischen Struktur im Süd-Osten kommen, eine schreckliche Tradition: Wenn der Mann stirbt, muss die Frau den jüngsten Bruder heiraten, damit sie nicht verwitwet leben muss. Das hat nichts mit allevitischen Traditionen zu tun. Das ist eine Tradition, die eben dort in einer Nomadengesellschaft überlebt hat. Es gibt andere sunnitische Familien, die hochmodern sind. Wo die Frau sehr selbstbewusst ist, ihren Mann selber aussucht, studiert, etc. Also: Man kann es sich nicht immer so einfach machen. Die Türkei lohnt immer einen zweiten Blick.

domradio: Und sie selber: Würden Sie sich als säkularisierter, mit dem Islam entfernt aber dennoch immer noch verbundener Gläubiger bezeichnen?
Özdemir: Ich betrachte das als Privatsache. Ich komme aus einer Familie, wo die Mutter auf eine gewisse Art religiös war, aber ihre eigene Form von Religiosität geprägt hat, indem sie eben zwar gebetet hat, im Fastenmonat gefastet hat - sie trägt aber kein Kopftuch, sie hat keine Pilgerfahrt nach Mekka gemacht, sie geht nicht in die Moschee, mein Vater auch nicht. Also die haben ihre individuelle Form von Islam. Das ist in der Türkei eigentlich relativ weit verbreitet, dieser "Volksislam". Das heißt: Der Islam, der eine Mischung eingegangen ist mit anatolischen Traditionen. Und daraus ist eben etwas anderes, was Neues entstanden. Das ist auch ein Grund für die These, warum ich glaube, dass ein Fundamentalismus eigentlich keinen Träger hat in der Gesellschaft. Natürlich gibt es schreckliche Formen von Fundamentalismus in der Türkei. Aber die Bevölkerungsmehrheit kann damit nichts anfangen.

domradio: Andere Glaubensrichtungen haben es in der Türkei nicht leicht.
Özdemir: Nicht nur die Christen - alle haben keine uneingeschränkte Glaubensfreiheit. Auch die Alleviten nicht. Da muss der türkische Staat im Grunde den Säkularismus  neu definieren im Sinne einer Äquivarianz zu allen Religionen. Es kann nicht eine Religion erster oder zweiter Klasse geben. Der Versuch der türkischen Republik, eine Einheitsnation zu schaffen, basierte einerseits auf dem Türkentum und andererseits auf dem sunnitischen Islam. Und jetzt merkt man: Damit kann man nicht im 21. Jahrhundert eine moderne Gesellschaft organisieren. Und man sieht an den Diskussionen in der Türkei - um die Anerkennung der Kurden, um die Anerkennung der Alleviten, aber eben auch um die Fragen nach dem Umgang mit den Christen und den dunklen Flecken der Vergangenheit -, dass sich im Grunde mit Verboten und Tabus eine solche Gesellschaft nicht mehr zusammenhalten lässt. Insofern gehört zum Teil zur türkischen Demokratisierung auch eine vollständige Gewährleistung von allen Rechten für alle Religionsgemeinschaften dazu. Dazu gehört selbstverständlich das Recht, Kirchen zu pflegen und zu bauen, zu reparieren und neu zu bauen, und: Wenn man sich hier das Recht herausnimmt zu missionieren, kann man das den Christen nicht verwehren.

Das Buch "Die Türkei - Politik, Religion, Kultur" von Cem Özdemir ist im Verlag Beltz erschienen, ist 256 Seiten stark und für 19.90 Euro im Handel erhältlich.