Celler Kulturgruppe von Betroffenen beteiligt sich am ersten weltweiten Multiple Sklerose-Tag

Ein Verstärker für schwache Stimmen

Multiple Sklerose gilt als "Krankheit mit den tausend Gesichtern". Trotz intensiver Forschung ist die Ursache einer der häufigsten Erkrankungen des zentralen Nervensystems nicht bekannt. Zum weltweiten MS-Tag, der heute erstmals begangen wird, will die Stiftung Linerhaus gemeinsam mit Selbsthilfegruppen in Celle über die Krankheit informieren. Der von einem Weltverband aus 42 nationalen MS-Gesellschaften organisierte Tag soll das öffentliche Bewusstsein für Bedürfnisse von MS-Kranken schärfen.

Autor/in:
Karen Miether
 (DR)

Matthias Bittner regelt mit dem Mischpult die Lautstärke. «Wir machen eine Reise ins Hörspielland», sagt der Medienpädagoge. Bei Bianca Meldau und Arne Haschen, die mit kräftiger Stimme sprechen, pegelt er den Ton herunter. Bei anderen dreht er den Verstärker auf. Einige aus der Kulturgruppe im Linerhaus in Celle können nur noch leise sprechen, fast wie ein Hauch klingt ihre Stimme. Alle sind auf den Rollstuhl angewiesen, sie leiden unter Multipler Sklerose (MS).

Viele der bundesweit mehr als 900 Gruppen planen nach Angaben der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft dazu Veranstaltungen. Die Spanne reicht von Vorträgen bis hin zu «Fühlstraßen», auf denen Gesunde nachvollziehen können, wie es ist, wenn Hände taub werden oder plötzlich Sehstörungen eintreten. In Deutschland leiden nach Angaben der MS-Gesellschaft mit Sitz in Hannover rund 120.000 Menschen an der chronischen Krankheit. Weltweit wird ihre Zahl auf 2,5 Millionen geschätzt.

Mit einer eigenen Zeitschrift und einem Kurzfilm hat die Kulturgruppe aus dem Linerhaus am Informationstag einiges vorzuzeigen. In dem einzigen Wohn- und Pflegeheim für MS-Kranke in Niedersachsen leben Menschen, die so stark erkrankt sind, dass sie dauerhaft Unterstützung benötigen. Zehn von ihnen arbeiten in der wöchentlichen Kulturgruppe gerade an einer Klangkollage zum Thema «Wie klingt die Sonne». Frei improvisiert entsteht dazu eine Geschichte. Jede und jeder darf ein Wort sagen. Von einer Torte in der Sommerhitze handelt am Ende der Text. Für Bianca Meldau steht im Vordergrund: «Hier geht es um jeden Einzelnen. Keiner wird übergangen, egal ob jemand Sprach- oder Stimmprobleme hat.» Und noch etwas ist der 38-Jährigen wichtig: «Wir wollen zeigen, dass wir trotz der Krankheit noch etwas können.»

Angelika Tebbe musste sieben Jahre bis zu einer Diagnose warten. Ein langes Martyrium mit Krankenhausaufenthalten lag da bereits hinter ihr. «Immer mal wieder hieß es, du hast nichts», erinnert sich die 61-Jährige. Als die Krankheit schließlich festgestellt wurde, war sie erleichtert. «Endlich hatte das Kind einen Namen.» Die 61-Jährige liebt das Spiel mit Worten in der Schreibwerkstatt der Kulturgruppe. Da macht es nichts, dass sie ihre Gedanken nicht mehr selbst zu Papier bringen kann. «Es wird festgehalten, was mir wichtig ist.»

Arne Haschen ist unter anderem Kameramann der Gruppe. Mit einer Spezialkonstruktion kann ein Stativ an seinem Rollstuhl befestigt werden. So wackelt die Videokamera nicht, wenn seine Hände schwach werden. Der heute 37-Jährige war noch Schüler, als MS bei ihm erkannt wurde. Vorher sei er sportlich gewesen, schreibt er in einem Text. «Ich wollte erwachsen werden. Erwachsen zu sein, heißt für mich, selbstbestimmt zu leben.»

Auch für Tränen sei in der Gruppe Raum, sagt Kulturpädagogin Michaela Grön, die das Angebot leitet. «Viel intensiver ist aber das Gefühl, aktiv zu sein und sich zu Wort melden zu können, und das ist ein positives Gefühl.» Auch Ausflüge, Theater- oder Konzertbesuche stehen im Heim auf dem Programm. Die Kulturgruppe hat zum 20-jährigen Bestehen des Pflegeheims ihre eigene Zeitschrift «mslina» herausgegeben und viel Resonanz erfahren.

Das Heft berichtet über das Heim und über Multiple Sklerose, enthält aber auch Gedichte, Konzert- und Reiseberichte. «Das Leben hier ist zwar durch die Krankheit gezeichnet, birgt aber dennoch Lebensqualität», sagt Grön. Ein Bericht von Arne Haschen über ein Konzert der Gruppe «Torfrock» macht das deutlich. Zwar musste er in der Nacht ins Krankenhaus, um sich einen neuen Blasenkatheter legen zu lassen. Doch er hat auch ganz vorn im Saal die Stimmung genossen und vier Bier getrunken. Sein Fazit: «Der Abend war ein richtiges Event, und ich habe einen Hauch von wildem Leben gespürt.»