Prälat Karl Jüsten und Erzbischof Zollitsch zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes

"Ein großer Glücksfall"

Der Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe bei der Bundesregierung, Prälat Karl Jüsten, hat davor gewarnt, die Kirchen "unter Änderung des Staatskirchenrechts langsam aus dem öffentlichen Raum in den privaten zu verweisen". In einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur erinnert Jüsten an die grundgesetzlich verankerte Verhältnisbestimmung des Staates zu Kirchen und sonstigen Religionsgemeinschaften.

Autor/in:
Christoph Strack
 (DR)

KNA: Herr Prälat, welchen Stellenwert hat das Grundgesetz für einen Katholiken?
Jüsten: Ich glaube, da sollte es keinen Unterschied zwischen Katholiken und Nichtkatholiken geben. Das Grundgesetz besitzt für jedermann, ob katholisch oder nicht, einen außerordentlich hohen Stellenwert. Ist es doch nicht weniger als die verfassungsrechtliche Grundlage unseres freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Das Grundgesetz ist ein großer Glücksfall. Es hat sich in den 60 Jahren seiner Geltung immer wieder bewährt und als erstaunlich resistent gegenüber politischen Modeströmungen und Launen erwiesen. Viele Elemente des Grundgesetzes verdienen es, besonders hervorgehoben zu werden.

KNA: Zum Beispiel?
Jüsten: Ich will mich hier auf zwei beschränken. Erstens: Dem Grundgesetz vorangestellt ist eine Präambel, in der von der Verantwortung vor Gott und den Menschen die Rede ist. Damit wird anerkannt, dass es überstaatliche Normen und somit Grenzen gibt, die der Verfassungs- und Gesetzgeber nicht überschreiten darf. Die Formulierung beruht übrigens auf einem Vorschlag, den der spätere Bundespräsident Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat eingebracht hat. Und zweitens: Das Grundgesetz gewährleistet die Religionsfreiheit als ein umfassendes Grundrecht und ist zeitgleich das Fundament des Verhältnisses zwischen dem Staat und den Kirchen und sonstigen Religionsgemeinschaften. Leitbild ist dabei die sogenannte hinkende Trennung von Staat und Kirche im Sinne gegenseitigen Respekts und einer positiven, fördernden Neutralität des kooperationsbereiten Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften.

KNA: Gibt es aus kirchlicher Perspektive einen besonderen Kern des Grundgesetzes?
Jüsten: Das würde ich nicht sagen. Eher könnte man davon sprechen, dass einige Teile des Grundgesetzes von besonderem kirchlichen Interesse sind. Gewiss gehört ganz prominent der Grundrechtekatalog dazu. Insgesamt genießt das Bonner Grundgesetz nach meinem Eindruck allseits hohe Akzeptanz und Zustimmung und hat in beträchtlichem Maße eine identitätsstiftende Wirkung entfaltet, die der Weimarer Reichsverfassung versagt geblieben ist. Die unbestrittene Attraktivität des Grundgesetzes hat den deutschen Einigungsprozess zweifellos ebenso gefördert wie seine Praktikabilität.

KNA: Wie hat sich das Modell einer positiven Neutralität des Staates gegenüber den Kirchen bewährt?
Jüsten: Selbstverständlich werden wir hier auf Erden nie einen Idealzustand erreichen, auch nicht im Verhältnis zwischen Staat und Kirchen. Dennoch ist an unserem staatskirchenrechtlichen Modell eigentlich nur wenig auszusetzen. Mehr als man gemeinhin vielleicht denkt, hat dieses Modell zum inneren Frieden und zum sozialen, kulturellen und auch wirtschaftlichen Wiederaufstieg nach den Verheerungen des Krieges und des nationalsozialistischen Terror- und Unrechtsregimes beigetragen. Nun ist unser staatskirchenrechtliches Modell allerdings recht komplex, was sein Verständnis nicht immer erleichtert. Das ist ein erster Grund dafür, dass es immer wieder Anfechtungen ausgesetzt ist, etwa wenn unbeabsichtigt im Gesetzgebungsverfahren staatskirchenrechtliche Besonderheiten oder Erfordernisse zunächst nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt werden. Das kann bis zur fehlerhaften Verwendung des Begriffs der "Religionsgemeinschaft" gehen.

KNA: Sehen Sie Gefährdungen?
Jüsten: Hier und da beobachte ich Tendenzen, die Kirchen unter Änderung des Staatskirchenrechts langsam aus dem öffentlichen Raum in den privaten zu verweisen unter dem Motto "Religion ist Privatsache" oder sie in einen Topf mit Nichtregierungsorganisationen und Akteuren der Bürgergesellschaft zu werfen. Da werden sie dann in einem Atemzug mit Gewerkschaften, Sportverbänden und Umweltorganisationen genannt. Solche Tendenzen sind gelegentlich auch der europäischen Ebene nicht fremd, der verständlicherweise der Zugang zum deutschen Staat-Kirche-Verhältnis nicht immer leicht fällt. Schließlich steht unser Staatskirchenrecht angesichts zunehmender religiöser Pluralisierung vor neuen, meiner Meinung nach aber beantwortbaren Fragen.

KNA: Der Satz des früheren Verfassungsrichters Böckenförde, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, gehört zu den großen Worten der Bundesrepublik. Ist diese Aussage über Sonntagsreden hinaus im politischen Geschehen ausreichend präsent?
Jüsten: Ich bin da eigentlich nicht pessimistisch und im Gegenteil davon überzeugt, dass die Politik sich ihrer Grenzen durchaus bewusst ist. Nicht umsonst werden gerade auch die Kirchen gerne für die Pflege des gesellschaftlichen Grundkonsenses in Anspruch genommen, und besonders auch in Grundsatzfragen unseres Gemeinwesens, in Fragen des Zusammenlebens und in ethischen Fragen werden von ihnen in ihrer sinnstiftenden Funktion kompetente Beiträge erwartet. Dieser Befund wird auch dadurch nicht widerlegt, dass die eine oder andere politische Entscheidung zu sehr tagesaktuellen, scheinbar pragmatischen Erwägungen folgt. Schon der Blick in die eigene Geschichte lehrt, wie schnell staatliche Willkür einkehren und der Staat in die Hände einer Räuberbande fallen kann, wenn aus dem Diktum Böckenfördes keine Konsequenzen gezogen werden.

KNA: In den vergangenen Jahren ging es - aus ganz unterschiedlichen Gründen - auffallend oft um Änderungen am Grundgesetz. Nimmt man das heute zu leicht?
Jüsten: In der Geschichte der Bundesrepublik ist das Grundgesetz schon häufig und teilweise sehr tiefgreifend geändert worden, etwa im Zuge der sogenannten Notstandsgesetzgebung 1968 oder der Asylgesetzgebung 1993. Dabei entstanden bisweilen Regelungen, die mehr Ähnlichkeit mit einem einfachen Gesetz als mit einem prägnanten Verfassungsartikel haben. Vielleicht neigen große Koalitionen etwas mehr dazu, Verfassungsänderungen in Angriff zu nehmen, aber insgesamt glaube ich, dass sich die Zeiten insofern nicht wesentlich verändert haben.

KNA: Während der vergangenen Wochen gibt es eine Diskussion, das Grundgesetz durch eine Verfassung zu ersetzen. Das entspräche der abschließenden Aussage des Grundgesetzes in Art. 146 zu seiner Geltungsdauer. Wie bewerten Sie solche Forderungen?
Jüsten: Mir ist nicht recht klar, was mit der Forderung nach einer Verfassung beabsichtigt wird. Das Grundgesetz ist zweifelsfrei eine Verfassung, nämlich die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland.
Wir sind damit, wie schon gesagt, außerordentlich gut gefahren. Ich sehe weder Bedarf für eine Verfassungsdiskussion noch gar für eine neue Verfassung. Vermutlich haben wir derzeit andere Sorgen.