Ein Jahr nach dem Erdbeben in der chinesischen Provinz Sichuan sind noch viele Fragen offen

Zwischen Trauer und Hoffnung

Die Stimme des jungen Bauern gerät ins Stocken. "Viele Ruinen, Häuser aus Schlamm und Holz, Kochstellen im Freien", sagt Zhao Xiaolong. So beschreibt der 38-Jährige seine Heimat Qingchuan ein Jahr nach dem schweren Erdbeben im Westen Chinas. "In meinem Kopf ist immer noch alles mit grauem Staub bedeckt." Am 12. Mai 2008 bebte die Erde mit Stärke 8,0. In der Provinz Sichuan kamen rund 90.000 Menschen ums Leben. Ein Jahr nach der Katastrophe ist der Alltag der Überlebenden immer noch von Provisorien bestimmt.

Autor/in:
Kristin Kupfer
 (DR)

Die Straßen und Wege sind zwar freigeräumt, die Versorgung mit Nahrungsmitteln funktioniert. Auch Telefon- und Stromleitungen sind größtenteils repariert. Das größte Problem jedoch bleibt der Wiederaufbau von Häusern. In den Gebieten um das Epizentrum Wenzhuan stürzten vor einem Jahr rund 90 Prozent der Gebäude ein. Bis zu zehn Millionen Menschen verloren ihr Dach über dem Kopf. Heute noch lebt der Großteil in Zeltstätten oder Übergangshäusern, die um die Ruinen errichtet sind.

Zhao Xiaolongs Haus ist nicht völlig zerstört, aber unbewohnbar. Es liegt rund 90 Kilometer vom Zentrum des Bebens entfernt. Mit Freunden hat der Bauer für sich, seine Frau, den Vater und die acht Jahre alte Tochter ein Haus aus Schlamm und Holz errichtet. "Es hält Wind und Regen ab, das reicht", sagt Zhao. "Wir können viel wegstecken."

Nur in zwei Dörfern der Region habe der Wiederaufbau inzwischen begonnen, erzählt Zhao. Außerdem seien die versprochenen staatlichen Zuschüsse zum Häuserbau noch nicht geregelt. Knapp 1.000 bis 1.500 Euro soll es pro Familie geben. Eine Entschädigung für das nun unbestellbare Ackerland habe er schon bekommen, allerdings nach dem schlechteren Kurs von 2006, sagt Zhao. Im Moment schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch.

   Ob er vom Staat neues Land pachten kann oder in die Stadt umziehen muss, weiß der Familienvater noch nicht. "Das wird schon alles", sagt er. "Ich habe ja großes Glück - keiner aus meiner Verwandten ist beim Erdbeben umgekommen." Vielen erging es anders. Eine Woche nach der Katastrophe hatte die chinesische Regierung erstmals eine Staatstrauer für Zivilisten beschlossen. Die Bevölkerung reagierte tief berührt.

Doch die Trauer um die Toten bleibt eines der heikelsten Themen bei der Aufarbeitung des Unglücks. Rund 14.000 eingestürzte Schulen sorgen für öffentliche Entrüstung. In manchen Orten wurden Unterrichtsgebäude durch das Erdbeben komplett zerstört, während andere Häuser unversehrt stehen blieben. Empörte Eltern werfen der kommunistischen Führung Pfusch am Bau vor. Eine offizielle Untersuchungskommission aus Peking erklärte dagegen, dies sei nur einer von mehreren möglichen Gründen.

Am Freitag sagte jetzt Tang Kai von der Planungsbehörde, bisher gebe es keine Hinweise darauf, dass Nachlässigkeit zum Einsturz von Schulen geführt habe. Allerdings seien die Untersuchungen nicht einfach gewesen, weil die Gebäude oft abgerissen worden seien. Zudem seien dort häufig Tote begraben, deren letzte Ruhe man nicht habe stören wollen. Im August hatten Eltern die Untersuchung der Überreste einer Schule erreichen wollen. Sie konnten den Abtransport der Trümmer aber nicht verhindern.

Offizielle Zahlen darüber, wie viele Schüler in den Trümmern starben, veröffentlichte die Regierung erstmals am Donnerstag. Nach Angaben der Staatsführung kamen 5.335 Kinder in Schulen ums Leben oder gelten immer noch als vermisst. Nach unabhängigen Schätzungen sind es weit mehr.
Für seinen Versuch, die Zahl der Toten zu dokumentieren,
wurde der Blogger Tan Zuoren im vergangenen März wegen "versuchten Umsturzes der Staatsmacht" festgenommen. Ein Team um den Architekten und Künstler Ai Weiwei führt das Projekt fort. Dabei wird er immer wieder von Behörden bedroht. Auf seiner Internetseite hat Ai seine Recherchen und die Namen und Adressen von mehr als 5.000 verstorbenen Kindern dokumentiert.

Das Erwachen der chinesischen Zivilgesellschaft ist für Bauer Zhao eine der positiven Folgen des Erdbebens. "Manche Leute haben gelernt, Fragen zu stellen", sagt Zhao, "und viele haben ein neues Gemeinschaftsgefühl entdeckt." Auch von der internationalen Hilfe ist er berührt. Mehrere ausländische Freiwillige der Initiative "Sichuan Relief Quake" hat Zhao in den vergangenen Monaten in seinem spärlichen Zuhause aufgenommen. Wie viele Chinesen versucht er, nach vorne zu schauen. "Ich lenke mich durch Arbeit ab - Doch wir werden die Toten nicht vergessen und für sie weiterleben."