Vatikan setzt hohe Erwartungen in den neuen US-Präsidenten

Eine historische Chance

Mit gespannter Erwartung verfolgt der Vatikan den Machtwechsel in den USA. Im Staatssekretariat und den anderen Kurienbüros werden die Kardinäle, Bischöfe und Monsignori am Dienstagnachmittag die Fernseher auf die Live-Übertragung aus Washington einschalten. Und auch im Papst-Appartement dürfte man verfolgen, wie Barack Obama vor dem Westflügel des Kapitols mit der Hand auf der alten Bibel seinen Amtseid leistet. Papst Benedikt XVI. hat dem neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten wenige Stunden vor dessen Amtsantritt per Telegramm gratuliert.

 (DR)

Die vatikanischen Erwartungen sind hoch an den neuen US-Präsidenten und seine Administration. Beobachter registrierten erstaunt, wie der Papst bereits unmittelbar nach der Wahl vom 4. November dem Sieger ein Glückwunschtelegramm sandte. Normalerweise erfolgt diese Gratulation erst zum Amtsantritt. Benedikt XVI. sprach darin von einer "historischen Chance". Er wünschte dem künftigen Präsidenten Gottes Segen für die verantwortungsvolle Aufgabe beim Aufbau einer Welt in "Frieden, Solidarität und Gerechtigkeit". Die ungewohnte vatikanische Geste bot Obama die Möglichkeit, seinerseits den unmittelbaren Kontakt zum Papst zu suchen und sich telefonisch zu bedanken.

Große Hoffnungen setzt der Vatikan auf die USA im Bereich Außenpolitik, vor allem für den Nahen Osten. Denn das Heilige Land steht ganz oben auf der diplomatischen Prioritäten-Liste des Heiligen Stuhls. Die Papst-Diplomaten wissen, dass ein Schlüssel für den israelisch-palästinensischen Konflikt und damit auch für das Schicksal der dortigen Christen in Washington liegt. Überhaupt erhofft man sich an der Kurie einen neuen Zug in der US-Diplomatie. Denn etwa um den Irak-Krieg hatte es erhebliche Differenzen mit der Vorgänger-Administration unter George W. Bush gegeben.

Blick in Richtung innenpolitischer Kurs
Neben der internationalen Fragen von Politik und Wirtschaft, von Entwicklung und Handelssanktionen, von Klimaschutz und Millenniumszielen wird der Vatikan aber auch den innenpolitischen Kurs Obamas genau verfolgen. Im Vorfeld hatten sich Kurienkardinäle alarmiert über Reformideen des neuen Präsidenten geäußert, etwa zur Liberalisierung der Abtreibung und der Stammzellforschung. So argwöhnte der langjährige Vatikan-Justizminister Kardinal Julian Herranz, dass in den Laboren künftig alles erlaubt sein könnte, wenn es nur therapeutischen Zwecken diene. Der Vatikan wird an die Adresse der neuen Regierung sicher bald deutlich machen, dass das Leben in all seinen Phasen von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod respektiert werden müsse. Zweifellos stand hier die bisherige US-Regierung den kirchlichen Positionen näher.

Ohnehin war das persönliche Verhältnis zwischen Benedikt XVI. und George W. Bush gerade in den letzten beiden Jahren auffallend herzlich. Noch im April bereitete Bush dem Papst einen farbenprächtigen Geburtstagsempfang auf den Rasen des Weißen Hauses - auch wenn das vatikanische Protokoll jeden Anschein einer Vereinnahmung zu vermeiden suchte. Der Papst wiederum revanchierte sich Mitte Juni zu Bushs Abschiedsbesuch mit einem legeren Zeremoniell im idyllischen Grün der Vatikangärten.

Die US-Bischöfe haben dem neuen Präsidenten ihre Zusammenarbeit angeboten - immerhin hat die Mehrheit der Katholiken Obama gewählt. Auch Papst und Vatikan werden sich in Offenheit und mit positiven Erwartungen um einen guten und kooperativen Kontakt bemühen. Man wird gespannt sein, wann Obama dem Papst im Vatikan seine Aufwartung macht. Nach der Reise nach Washington und New York dürfte Benedikt XVI. auf absehbare Zeit nicht wieder amerikanischen Boden betreten. Aber schon die nächsten Schritte in Nahost dürften Aufschluss auf das künftige Zusammenspiel der einzigen verbliebenen politischen Weltmacht mit der geistlichen Weltmacht geben.

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