Immer mehr Jugendliche leiden an Computerspiel- und Internetsucht

Der Kick der Pixel

Experten sind sich einig: Internet kann abhängig machen und die Zahl der Abhängigen steigt stetig. Bis heute ist die Internetsucht aber keine offiziell anerkannte Krankheit. Betroffen sind vorrangig junge Männer im Alter von 13 bis 31 Jahren. Weit verbreitet sind vor allem die Online-Sex- sowie die Online-Spielsucht. Im Bereich der Online-Chatsucht sind eher Mädchen und junge Frauen gefährdet.

Autor/in:
Ulla Hanselmann
 (DR)

Es gab eine Zeit, in der Sven B. zwei Leben hatte.
In einem war er ein Held, im anderen ein Loser. Das eine führte er in den unendlichen Weiten des Online-Rollenspiels «World of Warcraft», das andere in Berlin: Schule abgebrochen, Hartz-IV-Empfänger und computerspielsüchtig. Tage- und nächtelang saß der 19-Jährige am Rechner, rauchte, vergaß das Essen, spielte bis zum körperlichen und psychischen Zusammenbruch.

«Er kam mit der Einsicht zu uns, dass er zwei Jahre seines Lebens verspielt hat», sagt Jannis Wlachojiannis. «Sven hatte innerhalb von zwei Jahren 300 Tage à 24 Stunden online verbracht.» Der Sozialpädagoge berät im Café Beispiellos in Berlin Computerspiel- und Internetsüchtige. Das Beratungsangebot des Caritasverbands für das Erzbistum Berlin nennt sich «Lost in Space» (Verloren im Raum) und richtet sich an Betroffene und deren Angehörige.

«Zwei bis vier Prozent der Spieler sind ernsthaft gefährdet - bei ihnen ist die Balance zwischen realem und virtuellem Leben nicht mehr gegeben», urteilt Jürgen Fritz, Leiter des Forschungsschwerpunktes «Wirkung Virtueller Welten» an der Fachhochschule Köln. Die Spannbreite der Computerspiel- und Internetsucht reicht von endlosem Chatten und Mailen über exzessives Spielen von sogenannten Ego-Shooter-Games, also Schießspielen, bis hin zum maßlosem Gebrauch anderer Internetanwendungen wie Musik-Downloads.

Online-Rollenspiele sind vor allem für Jugendliche faszinierend. Sie kreieren sich einen «Avatar», einen virtuellen Stellvertreter, bestehen Abenteuer mit ihm, steigern ihre Leistung, bauen Freundschaften zu anderen Spielern auf.

Bei Spielen wie «World of Warcraft» hängt der Erfolg von der investierten Zeit ab - wer viel spielt, kommt weiter. Doch wer viel spielt, muss nicht automatisch onlinesüchtig sein. Die Gefahr, die Balance zu verlieren, sei größer, wenn jemand im normalen Leben Ärger in der Schule oder mit den Eltern habe, sagt Fritz: «Der findet in der virtuellen Welt die Erlösung von negativen Gefühlen wie Langeweile oder Unzulänglichkeit, sucht sie immer häufiger auf.»

Die Cyberwelt hält dann das bereit, was im Alltag häufig fehlt: Lob, Respekt, Zuneigung. Die Suchtsymptome sind die gleichen wie bei stoffgebundenen Süchten wie Alkoholismus: Die Spieler sind länger online als sie wollen, leiden unter Entzugserscheinungen. Die Warnsignale sind dabei für Angehörige kaum zu übersehen: Die Betroffenen vernachlässigen Freundschaften, Schule oder Beruf. Auch ihr Äußeres kann sich verändern. Sie nehmen häufig stark zu oder ab.

«Computerspiel- oder Internetsucht ist kein anerkanntes Krankheitsbild und wird vielfach immer noch bagatellisiert, das Beratungsnetz ist sehr dünn», klagt Sozialpädagoge Wlachojiannis. Doch langsam wächst die Zahl der Beratungsstellen: Im Frühjahr eröffnete am Klinikum der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz eine Spielsucht-Ambulanz. Ein ähnliches Angebot gibt es seit Juni an der Psychiatrischen Universitätsklinik Tübingen.

Bei «Lost in Space» in Berlin sind sechs von zehn Hilfesuchenden Angehörige, häufig alleinerziehende Mütter. Sie kommen, wenn der Sohn die Wohnung demoliert hat oder mit Selbstmord droht, weil sie den Internetzugang gekappt haben.

«Mit Verboten erreicht man gar nichts», sagt Sozialwissenschaftler Fritz. Verzweifelten Eltern rät er, das Gespräch zu suchen, auch mal selbst zu spielen und Vereinbarungen über Spielzeiten zu treffen. Wichtig seien auch alternative Erlebnisangebote, eine Bergtour beispielsweise. Darin sieht er auch eine Aufgabe für Kirchengemeinden.

Bei den Betroffenen selbst sei eine Beratung nur dann sinnvoll, wenn sie selbst etwas ändern wollten, weiß Wlachojiannis. Nach einem Einzelgespräch können die Computer-Süchtigen bei «Lost in Space» einmal pro Woche an einer Gesprächsgruppe teilnehmen. Die Mehrzahl der Teilnehmer sei zwischen 16 und 25 Jahre alt und männlich. «Unser Ziel ist es, die Leute zu einem kontrollierten Umgang mit dem Computer zu befähigen», sagt der 26-Jährige. Abstinenz wie etwa bei Alkoholsucht sei keine Lösung, schließlich sei der Computer aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken.

Sven B. kam drei Monate lang regelmäßig ins Café Beispiellos. Er entschied sich, seine Spielfigur bei «World of Warcraft» zu löschen - und besann sich auf sein Leben vor der Sucht, trieb wieder Sport, traf seine alten Freunde wieder. Die Gesprächsgruppe half ihm dabei, Hemmschwellen zu überwinden. Und sie hatte auch ein paar Tipps parat, wie man der Versuchung widerstehen kann, schon morgens den Rechner anzumachen: Einfach mal eine Zeitung kaufen.