Die umstrittene Ratzinger-Rede in der Sapienza von 1990

"Keine kurzschlüssige Apologetik aufbauen"

In einem für Italien bislang einmaligen Vorgang hat der Vatikan einen für Donnerstag vorgesehenen Papstbesuch in der Universität La Sapienza abgesagt. Vorausgegangen waren tagelange Proteste von Studentengruppen, aber auch von Dozenten. Sie warfen Benedikt XVI. unter anderem vor, in einem Vortrag 1990 den kirchlichen Prozess gegen Galileo Galilei gebilligt zu haben. Sie stützten sich dabei nach Einschätzung der Vatikan-Zeitung "Osservatore Romano" auf ein falsch verstandenes Zitat. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert Auszüge aus dem umstrittenen Vortrag, die der damalige Kurienkardinal Joseph Ratzinger am 15. Februar 1990 an der Sapienza hielt:

 (DR)

"Der Widerstand der Schöpfung gegen ihre Manipulation durch den Menschen ist im letzten Jahrzehnt zu einem neuen Faktor der geistigen Situation geworden. Die Frage nach den Grenzen der Wissenschaft und nach den Maßen, denen sie zu folgen hat, stellt sich unausweichlich. Bezeichnend für die Änderung des Klimas erscheint mir die Änderung in der Art und Weise, wie man den Fall Galilei beurteilt. Das im 17. Jahrhundert noch wenig beachtete Ereignis war im Jahrhundert darauf geradezu zum Mythos der Aufklärung überhöht worden: Galilei erscheint als das Opfer des in der Kirche festgehaltenen mittelalterlichen Obskurantismus.

(...) Seltsamerweise war Ernst Bloch mit seinem romantischen Marxismus einer der ersten, der sich offen diesem Mythos widersetzte und eine neue Interpretation der Ereignisse anbot.
Für ihn beruht das heliozentrische Weltbild ebenso wie das geozentrische auf unbeweisbaren Voraussetzungen. Dazu gehöre die Annahme eines ruhenden Raumes, die inzwischen durch die Relativitätstheorie erschüttert worden ist. (...) Erstaunlich ist aber nun die Wertung, die er daraus ableitet: "Nachdem die Relativität der Bewegung außer Zweifel steht, hat ein humanes und ein älteres christliches Bezugssystem zwar nicht das Recht, sich in die astronomischen Rechnungen und ihre heliozentrische Vereinfachung einzumischen, wohl aber hat es das eigene methodische Recht, für die Zusammenhänge der humanen Wirklichkeit dieser Erde festzuhalten und die Welt um das auf der Erde geschehene herumzuordnen."

Wenn hier die beiden methodischen Sphären noch deutlich voneinander geschieden und in ihrem jeweiligen Recht wie in ihren Grenzen anerkannt werden, so klingt das Resümee des skeptisch-agnostischen Philosophen P. Feyerabend schon sehr viel aggressiver, wenn er schreibt: "Die Kirche zur Zeit Galileis hielt sich viel enger an die Vernunft als Galilei selber, und sie zog auch die ethischen und sozialen Folgen der Galileischen Lehre in Betracht. Ihr Urteil gegen Galilei war rational und gerecht (...)".

Unter den Gesichtspunkten der praktischen Wirkung geht zum Beispiel C. F. von Weizsäcker noch einen Schritt weiter, wenn er einen "schnurgeraden Weg" von Galilei zur Atombombe sieht.

Zu meiner Überraschung wurde ich vor kurzem in einem Interview über den Fall Galilei nicht etwa gefragt, wieso die Kirche sich angemaßt habe, naturwissenschaftliche Erkenntnis zu behindern, sondern ganz im Gegenteil, warum sie eigentlich nicht klarer gegen die Verhängnisse Stellung genommen habe, die sich ergeben mussten, als Galilei die Büchse der Pandora öffnete.

Es wäre töricht, auf solchen Auffassungen eine kurzschlüssige Apologetik aufzubauen; der Glaube wächst nicht aus dem Ressentiment und aus der Bezweiflung der Rationalität, sondern nur aus einer grundlegenden Bejahung und aus einer weiträumigen Vernünftigkeit."