Familientragödie in Darry - Merkel fordert "Kultur des Hinsehens" - Weihbischof Jaschke im domradio-Interview

"Die Kinder sind von Gott nicht verlassen!"

Nach den Kindstötungen von Darry und Plauen diskutieren Politiker und Experten verstärkt Forderungen nach mehr Schutz für Kinder vor Verwahrlosung und Gewalt in der Familie. Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte eine "Kultur des Hinsehens". Familienministerin Ursula von der Leyen (beide CDU) sprach sich für verbindliche Vorsorgeuntersuchungen von Kindern aus. Hamburgs Weihbischof Dr. Hans-Jochen Jaschke findet Trost im Glauben: " Die Vollendung im Himmel ist den Kindern ganz, ganz gewiss".

 (DR)

Jaschke warnte im domradio vor einer pharisäischen Haltung der Gesellschaft. Zur Schöpfung gehöre auch, dass Menschen frei sein können, sogar so frei, um das Schlimmste zu tun. Jaschke: "Es wird immer solche Schrecklichkeiten geben." Es sei verständlich, dass jetzt nach den Schuldigen gesucht werde. Die Behörden träfe seines Erachtens dabei aber keine Schuld. Das Jugendamt sei bereits informiert und aktiv gewesen, "von einem brutalen Versagen" wolle er da nicht sprechen. "Wir leben nicht in einer Welt, in der sich alles kalkulieren lässt."

Vielmehr müsse unsere Gesellschaft solche Schrecklichkeiten vermeiden lernen: durch ein soziales Miteinander, ein waches Auge füreinander und durch eine insgesamt kinderfreundliche Gesellschaft.

Lesen Sie hier das Interview im Wortlaut.

Führten Wahnvorstellungen zur Tat?
Die mutmaßliche Kindermörderin von Darry in Schleswig-Holstein litt vermutlich unter Wahnvorstellungen. Sie habe möglicherweise Unheil auf die Kinder zukommen sehen und sie mit ihrer Tat davor bewahren wollen, sagte der Direktor der psychiatrischen Uniklinik in Kiel, Josef Aldenhoff, der Nachrichtenagentur ddp.
Aldenhoff nannte es erstaunlich, dass eine psychisch kranke Frau allein so viele Kinder erzogen habe, darunter auch ein behindertes Kind. Zwar habe sich die Frau in psychiatrischer Behandlung befunden.  Ein Psychiater hätte jedoch vor eventuellen von der Frau ausgehenden Gefahren nur warnen können, wenn er konkrete Verdachtsmomente gehabt hätte. Er gehe davon aus, dass es vor der Tat der Frau keine entsprechenden Äußerungen von ihr gegeben habe.


Vorschläge en masse
Der Vorsitzende der Deutschen Kinderhilfe Direkt, Georg Ehrmann, sagte, die Jugendhilfe nehme ihr Wächteramt zu wenig wahr und setze zu sehr auf Konsens mit den Eltern. Der Kriminologe Christian Pfeiffer warnte vor dem Eindruck, Verwahrlosung und Gewalt gegen Kinder nähmen zu.

Merkel betonte, es müsse gemeinsames Ziel sein, "dass Kinder als die Schwächsten in unserer Gesellschaft eine gesicherte Zukunft haben". Zwar seien zunächst die Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen gefordert, um Kinder in Not besser zu schützen. Das genüge aber nicht. "Kinder in Not gehen uns alle an", mahnte die Kanzlerin.

Die Bundesfamilienministerin von der Leyen lobte die Initiative von mehr als der Hälfte aller Bundesländer, die Eltern bereits verbindlich zu Untersuchungen von Kindern einladen. Wenn Eltern der Einladung nicht folgten, würde sich das Jugendamt um die Familien kümmern. "Die Erfahrungen in einzelnen Bundesländern zeigen, dass auf diese Weise unbürokratisch nachgehakt wird", sagte die CDU-Politikerin.

Ein Bundesgesetz zu Pflichtuntersuchungen lehnte von der Leyen jedoch erneut als nicht verfassungsgemäß ab. Das Bundesinnenministerium und das Bundesjustizministerium hätten übereinstimmend erklärt, man könne nicht 100 Prozent der Eltern verdächtigen, ihre Kinder zu vernachlässigen, um einzelne vernachlässigte Kinder zu finden. Auch Pfeiffer lehnt Pflicht-Vorsorgeuntersuchungen für Kinder ab. "Freiwilligkeit ist immer besser. Alles mit Kontrolle und Druck
erreichen zu wollen, ist der falsche Weg", sagte der Direktor des
Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen. Pfeiffer wandte
sich gegen den Eindruck, dass Verwahrlosung und Gewalt gegen Kinder
in der Gesellschaft zunähmen. "Aber die Sensibilität der
Gesellschaft, auch der Politik nimmt zu."

Ehrmann sagte, angesichts aktueller Statistiken, wonach zehn Prozent der Kinder eines jeden Jahrgangs als verwahrlost gelten, sei bei Problemfamilien "großes Misstrauen angesagt". In keinem Bereich sei in den vergangenen fünf Jahren so sehr gespart worden. In manchen Regionen komme ein Sachbearbeiter auf 150 Fälle. Notwendig sei ein nationaler Aktionsplan der Bundesregierung für den Kinderschutz.