Am Sonntag wird über den Tropensozialismus des Hugo Chávez abgestimmt

Weichenstellung in Venezuela

Venezuela steht vor einer entscheidenden Weichenstellung. Am Sonntag lässt Präsident Hugo Chávez über über die Änderung der Verfassung abstimmen. Sein Ziel: eine Diktatur? Vorausgegangen war ein monatelanger Streit zwischen Chávez und der Katholischen Kirche im Land.

 (DR)

69 der 350 Verfassungsartikel sollen geändert werden
Durch das moderne Stadion von Mérida hallen Sprechchöre: "Wir wollen Chávez, wir wollen Chávez." Stundenlang haben 20.000 rot gekleidete Anhänger des venezolanischen Präsidenten ausgeharrt, um ihr Idol zu hören - und zu sehen. Um halb acht Uhr brandet Jubel auf. Eine Menschentraube marschiert die Aschenbahn entlang, der linksnationalistische Staatschef mittendrin.

Immer wieder hält Hugo Chávez strahlend inne, verbeugt sich, winkt.
Dann erklärt er, warum er das Referendum über die von ihm geplante Verfassungsreform am Sonntag für so wichtig hält: "Es entscheidet sich die Zukunft unserer Jugend. Die Reform ist unverzichtbar, damit die Revolution nicht ins Stocken gerät oder sogar untergeht."

Die Venezolaner sollen über die Änderung von 69 der 350 Verfassungsartikel entscheiden. Vorgesehen ist, die Autonomie der Zentralbank abzuschaffen, die tägliche Arbeitszeit von acht Stunden auf sechs zu senken und die Produktion so weit wie möglich auf kollektive Eigentumsformen umzustellen. Zudem würde dem Präsidenten die Möglichkeit unbegrenzter Wiederwahl eröffnet.

"Wir müssen Kurs auf den Sozialismus nehmen"
Durch die Verfassung von 1999, seinem ersten Regierungsjahr, sei das Wirtschaftssystem an den Kapitalismus festgezurrt, meint Chávez, "aber jetzt müssen wir Kurs auf den Sozialismus nehmen". Drei westliche Bundesstaaten will er zu einer Andenprovinz mit einem eigens von ihm ernannten Vizepräsidenten zusammenfassen. Die Menge jubelt.
"Der Präsident hat es eilig", sagt der Basisaktivist Simón Rodríguez.
"Er will das politische System umkrempeln, um die korrupten Bürokraten zu umgehen. Dann käme das Volk besser zum Zug." Für ihn strebt Chávez einen "Sozialismus light" an, mit einer zentralen Rolle des Staates, aber ohne die Repression des sowjetischen Systems.

Doch so zuversichtlich sind längst nicht alle Venezolaner. Anders als bei den drei Präsidentenwahlen und zwei Referenden seit 1998, die Chávez allesamt deutlich für sich entschied, könnte es diesmal knapp werden. Die bürgerliche Opposition wittert wieder eine Chance. Auch Studentenvertreter und die katholische Kirche sind gegen die Verfassungsänderungen.

"Venezuela soll auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung verpflichtet werden, damit schließt Chávez große Teile der Bevölkerung aus", sagt die Anwältin Mireya Zambrano, die in einem vornehmen Villenviertel von Mérida für ein "Nein" wirbt. "Alle Macht wird dem Präsidenten zugeschanzt." Durch willkürliche Enteignungen werde der "produktive Apparat" gefährdet, im Falle eines Ausnahmezustands würden grundlegende Menschenrechte außer Kraft gesetzt.

Es gibt eine Opposition
"Die größte Sorge der Chávez-Anhänger ist es, dass immer Menschen mitbekommen, was sie wirklich vorhaben", urteilt Anwältin Zambrano.
Das finden auch die Studenten vor der medizinischen Fakultät. Eine der zwei Fahrbahnen haben sie durch zwei Autoreifen und einen gefüllten Müllsack blockiert. Eine Studentin steckt den Beifahrern Flugzettel zu, zwei ihrer Kommilitonen schreiben mit weißer Farbe ein großes "NO" auf schwarz getönte Heckscheiben.

Die Stadt Mérida ist eine der Hochburgen der oppositionellen Studentenbewegung, von der Chávez seit Mai immer wieder herausgefordert wird. Brennende Autoreifen und Scharmützel mit Uniformierten sind im November zum Alltag geworden, einmal schoss ein Unbekannter vier Polizisten und einen Demonstranten an. "Wir sind keine Rechten, wir wollen Pluralismus und Chancengleichheit", sagt Yoel Rojas, 20. "Aber auf keinen Fall sind wir für den Castro-Kommunismus, in den uns Chávez führen will."
Viele Menschen sind noch immer unentschlossen, ob sie am Sonntag mit "Ja" oder "Nein" votieren sollen. Wie es nach dem Referendum weitergeht, ist völlig ungewiss. Vor kurzem ließ Hugo Chávez durchblicken, dass seine gewohnte Siegesgewissheit angekratzt ist.

"Wir müssen alle Möglichkeiten berücksichtigen", sagte er. "Sollte sich das 'Nein' durchsetzen, müsste ich einen gründlichen Reflexionsprozess beginnen."

Von Gerhard Dilger (epd)