Alte und neue Begehrlichkeiten beim Lissaboner EU-Gipfel - Reformvertrag statt EU-Verfassung

Feilschen um "Fußnotenvertrag"

Gut 250 Seiten umfasst der Entwurf des neuen Reformvertrages, mit dem die Europäische Union auf ihrem Gipfeltreffen in Lissabon die zweieinhalbjährige Verfassungskrise beilegen will. Kritiker nennen das Dokument einen "Schweizer Käse" wegen der "riesigen Löcher", die in den ehemaligen Verfassungsentwurf gerissen wurden.

Autor/in:
André Spangenberg
 (DR)

Aber diese Verfassung war nach dem Nein bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden 2005 nicht mehr zu retten.

Im Juni - unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft - musste das Verfassungsprojekt offiziell beerdigt werden. Mit dem Satz "Das Verfassungskonzept wird aufgegeben", wurde exakt drei Jahre und drei Tage, nachdem sich ein europäischer Konvent auf den Vorschlag für eine europäische Verfassung geeinigt hatte, das "Jahrhundertwerk" ohne großes Aufheben ad acta gelegt. Zuvor hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als Ratsvorsitzende der EU monatelang versucht, einen Ausweg aus der Verfassungskrise ohne Preisgabe der Verfassung zu finden. Doch gab es dafür keine in der EU notwendige Einstimmigkeit.

Was Merkel in Brüssel erreichte, war eine Grundsatzeinigung auf einen neuen "Reformvertrag", der den ungeliebten Vertrag von Nizza ablösen soll. Als Erfolg gefeiert wurde die fast komplette Übernahme der im Verfassungsentwurf vorgesehenen institutionellen Reformen der EU. Trotz des ausformulierten Verhandlungsmandats kamen in der anschließenden Regierungskonferenz die nationalen Begehrlichkeiten zum Vorschein. Jetzt ist es an den 27 Staats- und Regierungschefs, "den Sack zuzubinden", heißt es in Berlin.

Und wieder einmal werden sich die Debatten auf dem EU-Gipfel vor allem um Polen drehen. Deutschlands östlicher Nachbar hatte mit seiner Forderung nach einer Quadratwurzelberechnung in Fragen der EU-Abstimmung den letzten Gipfel im Juni fast zum Scheitern gebracht. Vier Monate später in Portugal geht es nun um die Frage, ob die sogenannte Joanina-Klausel, die in Brüssel als Kompromiss zum Abstimmungsverhalten gefunden worden war, im Rang eines Protokolls oder nur einer einfachen "Erklärung" festgehalten wird. Mit dieser Klausel ist ein aufschiebendes Veto gegen EU-Entscheidungen möglich. Wenige Tage vor der polnischen Wahl ist das für Warschau eine Prestigefrage.

Zum weiteren Streitpunkt sind die nationalen Sitze im Europa-Parlament geworden. Erst am vergangenen Donnerstag hatte das Europäische Parlament den Weg freigemacht zu seiner eigenen Verkleinerung. Mit der Europawahl 2009 sollen statt heute 785 nur noch 750 Abgeordnete über die Geschicke Europas entscheiden. Das heißt für 17 Staaten, darunter Deutschland, dass sie auf einige Sitze verzichten müssen. Deutschland wird künftig mit 96 statt 99 Abgeordneten vertreten sein. Italiens Anteil sinkt von 78 auf 72. Da aber Italiens Erzrivale Frankreich 74 und selbst Großbritannien noch 73 Sitze haben soll, empfindet das Rom als ungerecht und will wieder gleichziehen - so wie bisher.

Letzter - vielleicht etwas bizarrer - Streitpunkt in der portugiesischen Hauptstadt ist das Ansinnen Bulgariens, die Gemeinschaftswährung Europas künftig auch kyrillisch "EBPO" (Evro) zu benennen. Momentan sind auf den Geldscheinen nur das lateinische "EURO" und das griechische "EYRO" aufgedruckt. Für die Forderung der Bulgaren gibt es durchaus Sympathien, kommt sie doch von dem einzig kyrillisch schreibenden EU-Mitgliedsstaat.

Ungeachtet der alten und neuen Probleme setzt die Bundesregierung auf einen Erfolg in Lissabon. Mit einer Einigung bekäme die EU "quasi durch die Hintertür" doch ihren Präsidenten, einen - wenngleich nicht mit diesem Namen versehenen - Außenminister, mehr Rechte für die Parlamente und eine bis auf Großbritannien für alle Länder verbindliche Grundrechtecharta. Nur eines, das räumen selbst die größten Befürworter ein, werde mit dem "Fußnotenvertrag" nicht kommen: Für den einfachen Bürger wird er "wohl nicht lesbar sein".