Studie: Bis zu 70 Prozent der Arbeitnehmer gehen trotz Krankheit zur Arbeit

"Zum Menschsein gehört auch Krankheit"

Der Druck auf Arbeitnehmer nimmt vor allem von gesellschaftlicher Seite immer mehr zu: Viele Arbeitnehmer in Deutschland gehen laut einer aktuellen Umfrage auch krank zur Arbeit. Rund drei von vier Beschäftigten seien in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal krank an ihrem Arbeitsplatz erschienen, erklärte die Bertelsmann Stiftung am Dienstag bei der Vorstellung des neuen Gesundheitsmonitors in Gütersloh. Rund ein Viertel der Befragten begründete das Arbeiten trotz Krankheit mit der Befürchtung beruflicher Nachteile oder dem Verlust der Arbeit.

 (DR)

Als Gründe werden überwiegend Pflichtgefühl sowie Rücksicht gegenüber Kollegen genannt. "Die Personaldecke wird immer dünner", erklärt Andreas Heyer, Projektmanager der Bertelsmannstiftung im domradio. "Wenn jemand ausfällt, müssen die Kollegen oft doppelt arbeiten. Viele wollen das ihren Kollegen nicht zumuten."  Rund 46 Prozent geben an, sogar zwei Mal oder öfter krank zur Arbeit gegangen zu sein. Fast jeder dritte Befragte handelte dabei gegen den ausdrücklichen Rat eines Arztes.

Der Krankenstand sank nach Angaben der Bertelsmann Stiftung im Jahr 2006 mit 7,2 Tagen pro Jahr auf das niedrigste Niveau seit der Wiedervereinigung.
Die Zahlen zeigten, dass Fehlzeiten allein nichts über den Gesundheitszustand der Arbeitnehmer aussagten. Vielmehr müsse die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Belegschaft in den Betrieben stärker beachtet werden.

Das Rekordtief beim derzeitigen Krankheitsstand sei eher eine Vorahnung künftiger Probleme, als ein Grund zum Jubeln, sagt Hannes Kreller, Sozialreferent der katholischen Arbeitnehmer Bewegung.

Denn Mitarbeiter, die sich trotz Krankheit zur Arbeit schleppten, seien durch Produktivitätseinbußen und Ansteckungsgefahr für Kollegen langfristig auch nicht im Interesse der Unternehmen. Auch können sich durch das ständige Verschleppen akuter Krankheiten schlimmere und langfristigere Erkrankungen ergeben, gibt Andreas Heyer hinsichtlich der Folgen dieses Trends zu Bedenken.

Misstrauen verstärkt den Druck
Der Druck auf Beschäftigte habe insbesondere von gesellschaftlicher Seite enorm zugenommen, sagt Kreller. Arbeitnehmer befürchten durch krankheitsbedingtes Fehlen am Arbeitsplatz berufliche Nachteile oder gar den Verlust des Arbeitsplatzes. In der Arbeitswelt herrsche eine "Misstrauenskultur" vor. "Die Beschäftigten fürchten, ein schlechtes Bild von sich abzugeben", so Kreller. "Viele bieten dann sogar ihren Urlaub als Ersatztage an."  

In vielen Betrieben eingeführte "Rückkehrergespräche" verstärke diese Misstrauenskultur, sagt Kreller. "Dabei geht es darum, das Problem einer Krankheit in der Person zu suchen," erklärt er. Es würde nicht nachgefragt, was das Unternehmen hinsichtlich der Arbeitskultur und -organisation zur Verbesserung der gesundheitlichen Lage des Beschäftigten beitragen könne.

Ein Recht auf Krankheit
Viele Arbeitnehmer nutzen ihre rechtlichen Möglichkeiten laut Kreller gar nicht aus. "Aus Angst, dass, egal wie sie reagieren, Nachteile für sie entstehen".

Der Arbeitnehmer dürfe in dieser Hinsicht ruhig etwas selbstbewusster sein und müsse sein Recht auf Krankheit viel mehr wahrnehmen, findet Kreller: "Es bedarf einer Diskussion, was das Menschsein ausmacht, dazu gehört auch Krankheit."

Es gehe darum, dass innerhalb der Unternehmen eine "Kultur des Gesprächs" stattfinde, in der Menschen auch krank sein dürfen, ohne, dass dies zu einer negativen Einschätzung der Person führe, so die Forderung von Kreller.
Beispiele dafür sind eingehende Befragungen der Mitarbeiter, wie sie ihr Arbeitsumfeld wahrnehmen. Andreas Heyer stellt fest: " Betriebe, die das konsequent anwenden merken, dass die Motivation der Mitarbeiter nach oben geht."