Wie bewerteten die europäischen Kirchen den Gipfel und das Ergebnis?

Europa ohne christliche Wurzeln?

Seit Beginn der EU-Verfassungsdebatte war es ein besonderes Anliegen der Kirchen, einen Gottesbezug in der Verfassung zu verankern. In dem jetzt verabschiedeten Grundlagenvertrag findet sich nur noch ein Verweis auf das religiöse Erbe Europas.
Was sagen die Kirchen zum neuen Vertrag, dazu ein Interview mit Stefan Lunte stellvertretender Generalsekretär der Comece Sipeca, der Kommission der Europäischen Bischofskonferenzen.

 (DR)

Kirchenartikel bleibt erhalten
Der Streit über eine EU-Verfassung ist vorerst
beigelegt: Nach langwierigen Verhandlungen haben sich die 27 Staats- und Regierungschefs in der Nacht zum Samstag in Brüssel auf Eckpunkte eines neuen Grundlagenvertrags geeinigt. Polen erreichte einen Aufschub des Abstimmungsmodus der "doppelten Mehrheit" bis 2014. Die Grundrechte-Charta wird in der Europäischen Union rechtsverbindlich, in Großbritannien aber nationales Recht nicht berühren. Die Gipfel-Kompromisse wurden überwiegend mit Erleichterung aufgenommen.

In den Vertrag übernommen wurde der Verweis auf das "kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas", der in der Präambel des Verfassungsvertrages enthalten war. Die Formel hatten die Autoren der Verfassung eingeführt, nachdem keine Einigung über einen Gottesbezug erzielt worden war. Erhalten bleibt auch der "Kirchenartikel", in dem die EU einen regelmäßigen Dialog mit Kirchen, Religionsgemeinschaften und weltanschaulichen Gemeinschaften zusagt. Es sei aber nach wie vor nicht gelungen, einen expliziten Verweis auf die christlichen Wurzeln Europas in dem Vertragswerk zu verankern, bedauerte der Stefan Lunte im Interview mit domradio.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte zum Abschluss, Europa sei "aus dem Stillstand herausgekommen". Nun gebe es eine gute Chance, dass der Vertrag bis 2009 in Kraft treten könne. Dem Mandat zufolge soll der Vertrag nicht mehr "Verfassung" heißen und auf wesentliche Symbole wie Europahymne und -flagge verzichten. Damit wird unter anderem den Wünschen der Niederlande und Frankreichs Rechnung getragen, deren Bürger die Verfassung 2005 per Volksabstimmung abgelehnt hatten.

Politiker erleichtert
Regierungspolitiker in EU-Ländern reagierten zum größten Teil erleichtert auf die Kompromisse. "Ohne die Einigung hätten wir ein ernstes Glaubwürdigkeitsproblem gehabt", erklärte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. SPD-Chef Kurt Beck sprach trotz einiger enttäuschter Hoffnungen von einem "guten Tag für Europa".

Besonders zufrieden äußerten sich der polnische Präsident Lech Kaczynski und der britische Premier Tony Blair. Der Präsident des Europaparlaments, Hans-Gert Pöttering (CDU), sieht die Substanz des Verfassungsvertrages gewahrt. "Unsere Werte werden geltendes Recht und die Rechte des Europäischen Parlaments gestärkt", sagte er.

Viele Ausnahmen vorgesehen
Mit der juristischen Feinarbeit am EU-Vertrag betraute der Gipfel eine Regierungskonferenz. Wegen der polnischen Sonderwünsche zum Abstimmungsverfahren hatte zeitweise ein Scheitern des Gipfels gedroht. Das System der "doppelten Mehrheit", der großen Staaten wie Deutschland in den Augen Polens einen übermäßigen Einfluss verschafft, soll nun erst 2014 eingeführt werden. Danach gilt eine dreijährige Übergangsfrist mit weiteren Vorteilen für kleinere Länder.

Großbritannien erreichte unter anderem Ausnahmen bei der Grundrechte-Charta. Während das 2000 verkündete Dokument für die übrigen EU-Staaten rechtsverbindlich wird, soll britisches Recht unberührt bleiben. Allerdings wird die Charta nur per Querverweis im Text verankert. Die Zuständigkeiten der EU werden durch sie nicht erweitert.

Kommentare
EU-Industriekommissar Günter Verheugen (SPD) forderte die EU-Mitglieder auf, aus dem Verhandlungspoker Lehren zu ziehen. "Wir müssen genau aufpassen, welche Sorgen unsere neuen Mitgliedsländer haben", sagte Verheugen der "Welt am Sonntag". Die Polen etwa befürchteten eine Ostpolitik über ihren Kopf hinweg. Nötig sei daher auch eine Stärkung der europäischen Außenpolitik.

Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker bedauerte, dass der neue Vertrag komplizierter sei als die verworfene EU-Verfassung, obwohl er als "vereinfachter Vertrag" dargestellt werde. Der scheidende britische Premier Blair sagte, die Abkehr von der EU-Verfassung sei für ihn das wichtigste Ergebnis des Gipfels.

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla lobte Merkels
Verhandlungsgeschick: "Die Verständigung auf einen Fahrplan für eine neue vertragliche Grundlage der Europäischen Union ist der krönende Abschluss der deutschen EU-Ratspräsidentschaft."

Die Linksfraktion im Bundestag sprach dagegen von einer politischen Bankrotterklärung und forderte eine europaweite Volksabstimmung über den EU-Vertrag. Fraktionsgeschäftsführer Ulrich Maurer sagte, die neoliberalen Kernpunkte des EU-Verfassungsentwurfs dürften nicht mit undemokratischen Mitteln per Grundlagenvertrag durch die Hintertür durchgesetzt werden. Der Grundrechtekatalog sei zu einem Vertragsanhängsel degradiert worden.