Stiftung im domradio: Drohung des Militärs nicht überbewerten - Europarat ruft zu Zurückhaltung auf

EU besorgt über Krise in Türkei

Angesichts der Krise um die Wahl eines neuen Staatspräsidenten in der Türkei hat die Europäischen Union zur Besonnenheit gemahnt. Die EU reagierte damit auch auf jüngste Ankündigungen des türkischen Militärs, die strikte Trennung von Staat und Kirche verteidigen zu wollen. Man solle die Drohung des Militärs nicht überbewerten, warnte im domradio-Interview der Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Istanbul.

 (DR)

Anlass: Präsidentschaftskandidatur von Außenminister Gül
Der amtierende EU-Ratspräsident, Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), betonte am Samstag in Berlin, die EU erwarte, "dass alle politisch Verantwortlichen ihren Beitrag dazu leisten, dass die Staatspräsidentenwahlen entsprechend der demokratischen und rechtsstaatlichen Regeln der Verfassung durchgeführt werden".

Anlass ist die Präsidentschaftskandidatur von Außenminister Abdullah Gül, der wie Ministerpräsident Recep TayyipErdogan als Veteran der religiösen Bewegung gilt. Der Streit  eskalierte, nachdem die Wahl eines neuen Präsidenten am Freitag im ersten Durchgang gescheitert war.

Steinmeier betonte, die EU verfolge die Entwicklung in der Türkei nach dem ersten Wahlgang zur Staatspräsidentenwahl "mit großer Aufmerksamkeit". Sie erwarte, dass die Wahlen und das Verfassungsgericht nicht durch äußeren Druck beeinflusst werden. Die türkische Opposition, die die Abstimmung boykottiere, hatte beim Verfassungsgericht eine Annullierung der Wahl beantragt. Das Gericht will voraussichtlich am Montag über den Antrag beraten.

Wie groß ist die Putsch-Gefahr?
Der Türkei-Experte der westfälischen Kirche, Kirchenrat Gerhard Duncker, hält die Demokratie in der Türkei für massiv bedroht. "Die Gefahr eines Putsches ist sehr groß", sagte Duncker nach einer einwöchigen Türkei-Reise am Montag der evangelischen Nachrichtenagentur, epd. Es werde Stimmung gemacht, dass die Trennung von Religion und Staat in Gefahr sei, sagte er mit Blick auf die Proteste am Sonntag in Istanbul. Die Aktionen seien jedoch auch Sammelbecken "für sich sehr undemokratisch gebärende Kräfte", warnte Duncker.

Die Zeit arbeitet gegen die Christen
Die strikte Trennung von Religion und Staat benachteiligt nach Auffassung Dunckers auch die christliche Minderheit in der Türkei. Sie dürften bislang keine Kirchen bauen oder Geistliche ausbilden.
"Man kann die Christen nicht dafür bestrafen, dass anderswo islamische Radikale ihre Schulen betreiben", erklärte Duncker, der neun Jahre die deutschsprachige evangelische Gemeinde in Istanbul betreute. Die Zeit arbeite gegen die Christen, warnte er. Schon bald gebe es keine christlichen Lehrer mehr. Von den rund 70 Millionen Einwohner sind schätzungsweise rund 100.000 Christen verschiedener Konfessionen.

Christen in der Türkei verunsichert
Zwei Wochen nach dem Mordanschlag auf einen Bibelverlag herrsche bei den Christen in der Türkei Verunsicherung, berichtete Duncker. Der Staat sichere zwar den religiösen Minderheiten Rechte zu, beteilige sich jedoch gleichzeitig an Diffamierungen gegen Ausländer und Minderheiten. Medien und Politiker würden zudem Misstrauen schüren, kritisierte er. Laut einer Umfrage einer türkischen Zeitung hätten es rund 40 Prozent der Befragten abgelehnt, neben Ausländern, Christen oder Juden zu wohnen, erklärte Duncker besorgt.

Anlässlich der Wahl des Staatspräsidenten hatte die türkische Armee davor gewarnt, dass sie eine schleichende Islamisierung nicht zulassen werde. Für eine weitere strikte Beibehaltung der Trennung zwischen Staat und Religion waren am Sonntag mehrere hunderttausend Menschen in Istanbul auf die Straße gegangen. Der Protest richtet sich unter anderem gegen den Präsidentschaftskandidaten Außenminister Abdullah Gül, der dem islamisch-konservativen Spektrum zugerechnet wird.