Präses Schneider zur Aktualität des gemeinsamen Sozialwortes der Kirchen von 1997

"Ausbeutung darf sich nicht lohnen"

Der rheinische Präses Nikolaus Schneider hält das vor zehn Jahren veröffentlichte gemeinsame Sozialwort der Kirchen für nach wie vor aktuell. Die zentralen Aussagen gelten seiner Ansicht nach sogar dringender als damals. Über die Auswirkungen des Papiers auf die Politik und die heute nach wie vor brennenden sozialethischen Fragen und mögliche Lösungsansätze sprach epd-Redakteurin Esther Soth mit dem Theologen und Sozialethiker.

 (DR)

epd: Im Rückblick gesehen - welchen Einfluss hat das Sozialwort auf die Politik gehabt?

Schneider: Ich glaube, dass dieses Sozialwort sozusagen vor allem subkutan gewirkt hat. Es ging im Sozialwort vor allem darum, Grundlagen für das praktische Zusammenleben zu benennen und für diese Grundlagen zu werben. Und die Art der Erarbeitung - es waren ja viele gesellschaftliche Gruppen beteiligt - wie auch die nachfolgende öffentliche Diskussion haben dazu geführt, dass viele Menschen sich dieser Grundlagen wieder bewusst wurden - jetzt mal völlig unabhängig davon, was davon umgesetzt und verwirklicht wurde. Aber zumindest diese Grundlagen wurden diskutiert.

epd: In welchen Punkten ist das Sozialwort heute noch aktuell?

Schneider: Aktuell, in dem Sinne, dass es auf Notwendigkeiten hinweist, ist es in nahezu allen Punkten. Also die Frage des Ausgleichs zwischen Arm und Reich. Die Frage der Perspektive auch der Armen. Die Frage der notwendigen Balance zwischen wirtschaftlichen Notwendigkeiten und den Notwendigkeiten des Sozialen. Die Orientierung an Integration, dass wir dafür eintreten, dass Leute nicht an den Rand der Gesellschaft gedrückt oder aussortiert werden.
Die Kluft zwischen Arm und Reich wird ja immer größer, und das kann nicht so sein, diese Entwicklung kann man nicht einfach hinnehmen.

Was wir damals gesagt haben, gilt heute dringender als damals, weil sich die gesellschaftlichen und die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen verändert haben, woran eben auch alte Maßstäbe und alte Standards des Sozialstaates zerbrochen sind. Ich glaube, dieses Papier war der Versuch gegen diese ersten Vorboten der Globalisierung Standards zu setzen und Standards zu verteidigen. Das Setzen von Standards ist gelungen, das Verteidigen von Standards nicht. Aber nun muss man sagen, auch der weltwirtschaftliche Druck ist massiv stärker geworden.

epd: Was müsste die Kirche heute zur sozialen und wirtschaftlichen Lage sagen?

Schneider: Die evangelische Kirche hat ja vor kurzem etwas gesagt zu Beteiligungsgerechtigkeit und Bildungsgerechtigkeit. Der Gerechtigkeitsbegriff wurde insgesamt differenziert. Ich bin davon überzeugt, dass das Bildungsthema ein wesentliches Thema ist, auch mit Auswirkungen auf die Fragen des gerechten und friedlichen Zusammenlebens in unserer Gesellschaft.

epd: Hat sich beim Problem der Arbeitslosigkeit etwas verbessert?

Schneider: Ich sehe niemanden, der im Augenblick einen Königsweg benennen kann. Ist uns nicht vor noch gar nicht so langer Zeit gesagt worden, wenn man nur das Soziale lockert und abschafft, dann gibt es neue Arbeitsplätze? Es hat sich gezeigt, dass diese Versprechungen nicht zutrafen. Ich halte es für ein ganz wesentliches Anliegen, dass wir so etwas schaffen wie einen zweiten oder dritten Arbeitsmarkt.

Mit dem Thema Kombilohn sollte man meiner Meinung nach pragmatisch umgehen. Ich sehe die Missbrauchsproblematik. Ich glaube aber trotzdem, dass man da einfach nur durch Ausprobieren weiter kommt - ausprobieren, kritisch auswerten und dann weiter entwickeln. Auch Mindestlohn gehört mit dazu: Ausbeutung darf sich nicht lohnen. Und das ist eine politische Aufgabe. Das reguliert der Markt aus sich heraus nicht. Der Markt ist ethisch blind. Wir brauchen einen geordneten Markt. Und da muss Politik endlich wieder ihre Handlungsfähigkeit und ihre Handlungskompetenz zurückgewinnen.

epd: Ein Schlagwort im Sozialwort war Gemeinwohl vor Eigennutz. Ist das immer noch aktuell?

Schneider: Das wird immer aktueller angesichts der Reichtums- und Armutsentwicklung in unserer Gesellschaft. «Privat vor Staat» ist ein hochideologisches Schlagwort, das unterstellt, dass privat im Ansatz alles besser zu lösen sei. Das stimmt nicht. Gucken Sie es sich bei der Bahn oder der Post an: Die Leistungen sind schlechter und teurer.
Das ist auch völlig klar, weil Private damit ja auch noch Geld verdienen müssen. Das führt zu drei Entwicklungen: erstens gehen die Leistungen immer weiter runter, zweitens steigen die Preise und drittens setzt man auf möglichst billige Arbeitskräfte.

Das heißt, man muss hingucken, wo ist Privat sinnvoll und wo ist Öffentlich sinnvoll. Und es gibt auch noch so etwas wie Gemeingut. Ich glaube, dass dieser Begriff heute völlig abhanden gekommen ist. Es gibt Dinge der allgemeinen Lebensvorsorge, die können nicht einfach dem privaten Wettbewerb anheim gegeben werden. Und man darf nicht mit allem und aus allem einen Markt und ein Geschäft machen.
Die EU diskutiert beispielsweise, ob unsere Kindergärten nicht Gewerbebetriebe sind.

epd: Könnte es heute noch mal so ein ökumenisches Wort der Kirchen geben?

Schneider: Das gemeinsame Sozialwort der Kirchen war so etwas wie ein Endpunkt der Entwicklung der alten Bundesrepublik Deutschland, des klassischen Sozialstaats und der klassischen sozialen Marktwirtschaft. Und es hätte von daher heute einen anderen Charakter. Und wir hätten, glaube ich, stärkeren Klärungsbedarf.
Nämlich uns neu zu fragen, was sind erreichbare Ziele, ausgehend von den Grundprinzipien, die wir 1997 in dem gemeinsamen Wort formuliert haben. Aber was sind Instrumentarien der Umsetzung, was sind Ziele, die realistisch sind? Da gibt es große Ratlosigkeit.