"Handelsware Mensch" - Im Irak blüht die "Entführungsindustrie"

Hintergrund

Westliche Geheimdienste sehen in der mutmaßlichen Entführung einer 60-jährigen Deutsch-Irakerin und ihres 20 Jahre alten Sohnes ein neues "schmerzliches Kapitel" in der im Irak "blühenden Entführungsindustrie". Der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), Ernst Uhrlau, hatte vor kurzem von einer "erfolgreichen Entführungsindustrie mit islamistischem, nationalem oder kriminellem Hintergrund" in dem Zweistromland gesprochen. Ein Agent des US-Auslandsgeheimdienstes CIA sprach in der Hauptstadt Bagdad von einer "satanischen Dimension der Gewalt, in der der Mensch zu einer Handelsware degradiert worden ist".

 (DR)

Das brisante Gemisch, das aus fanatisierten Islamisten, Anhängern von Ex-Diktator Saddam Hussein und Kriminellen besteht, ist nach Darstellung der Geheimdienste nicht mehr "im entferntesten zu durchschauen". Entführungen von Ausländern und Irakern gehören ebenso wie die vielen Selbstmordattentate zum irakischen Alltag. Das Motto der Kidnapper lautet: "Mit den Geiseln kann man viel Geld machen". Die Geiselnehmer rekrutieren sich nach Angaben der Nachrichtendienste auch aus den ehemaligen "Spezialtruppen" von Hussein.

Nach amerikanischen Informationen werden täglich im ganzen Land bis zu 60 Irakern entführt, um Lösegeld zu erpressen. Für einheimische Geschäftsleute oder andere wohlhabende Bürger würden mitunter 50 000 Dollar, aber auch Millionen gezahlt, um sie freizubekommen. Deutsche Sicherheitskreise gehen davon aus, dass es bei der entführten Deutsch-Irakerin und ihrem Sohn "ähnlich liegen könnte". Der Ehemann und Vater, ein begüterter Iraker, war bei der Entführung seiner Familienangehörigen angeblich nicht zu Hause. Als ein Beispiel für ein Kidnapping von Einheimischen führen Geheimdienstler den Fall des Bruders eines in Bagdad bekannten Chirurgen an. Der Arzt musste rund eine Million Dollar bezahlen, um seinen Bruder aus der Gewalt der Entführer freizubekommen.

Um viel mehr Geld geht es bei Entführungen von Ausländern im Irak. Die Bundesregierung hat sich nicht dazu geäußert, ob seinerzeit für die Befreiung der bayerischen Archäologin Susanne Osthoff und der beiden Ingenieure Rene Bräunlich und Thomas Nitzschke Lösegeld gezahlt worden ist. Nach zuverlässigen Informationen wurden aber für Osthoff und für die beiden Männer jeweils fünf Millionen Dollar von Berlin zur Verfügung gestellt. Die Kidnapper hätten allerdings "mindestens das Doppelte verlangt", war zu erfahren. Deutschland, Frankreich und Italien halten nach einem Bericht der britischen Tageszeitung "Times" den Rekord bei Lösegeldzahlungen. Den Regierungen sei das Leben von Geiseln in Einzelfällen bis zu zehn Millionen Dollar wert gewesen.

Ein Sicherheitsexperte berichtete, dass eine Regierung "natürlich ein Lösegeld zahlt, wenn sie sieht, dass sie eine Geisel nicht anders freibekommt". Wenn sie nicht zahlt, könne das "schrecklich ausgehen". So wird der Fall der britischen Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation im Irak, Margaret Hassan, angeführt, der tragisch endete. Der britische Premier Tony Blair hatte sich auch in einer von arabischen Sendern ausgestrahlten Botschaft nachhaltig geweigert, für sie Lösegeld zu zahlen. Darauf erklärten sich sogar private Spender bereit, auf die Forderungen der Entführer einzugehen. Die Entführte, die mit einem Iraker verheiratet und zum Islam konvertiert war, wurde zur "Machtdemonstration" von den Geiselnehmern am 19. Oktober 2004 "hingerichtet".

Die Aufständischen im Irak finanzieren sich nach einem geheimen Bericht der US-Regierung inzwischen durch die Entführungen und Lösegelderpressungen von selbst. Die Rebellen seien nicht mehr auf finanzielle Hilfe von Staaten wie Iran oder Syrien angewiesen. Die Gruppen erwirtschafteten mittlerweile sogar Überschüsse und könnten damit andere Terroristen wie die Taliban in Afghanistan mit Geld versorgen.
Von ddp-Korrespondent Friedrich Kuhn