Krisentelefone verzeichnen immer mehr Hilferufe

Pflege in Not

Die Mutter hat sich beim Kämmen gewehrt. Da habe sie einfach mit der Haarbürste zugeschlagen. „Dabei kenne ich mich so gar nicht“: Diesen Satz hören die Mitarbeiter der „Pflege in Not“-Telefone häufig. Die Anrufer, die Fälle von Gewalt oder Vernachlässigung gegen ältere Hilfsbedürftige melden oder einfach Rat suchen, sind in den vergangenen Jahren immer mehr geworden.

 (DR)

Rund 80 Prozent der Anrufer sind Frauen
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben in Deutschland derzeit über zwei Millionen Pflegebedürftige - Tendenz steigend. 70 Prozent davon werden zu Hause versorgt.

„Wenn Not, Elend und Verzweiflung zusammenkommen, dann ist auch Gewalt nicht weit", sagt Wolf Dieter Hirsch von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Krisentelefone in Bonn. Der Einrichtung sind 15 Pflegenot-Telefone angeschlossen. Dazu gehört unter anderem die Beratungs- und Beschwerdestelle bei Konflikt und Gewalt in der Pflege älterer Menschen in Berlin, bei der derzeit über 150 Anrufe im Monat gezählt werden.

Rund 80 Prozent der Anrufer seien Frauen, sagt Psychologin Dorothee Unger. Meist suchten Angehörige Beratung, die mit der Pflege überfordert und von Schuldgefühlen geplagt seien. Deutlich zugenommen haben laut Unger auch die Anfragen aus Pflegeeinrichtungen. Manchmal gehe es dabei nur um eine Fallbesprechung. Es gebe aber auch Anrufe von Mitarbeitern von Sozialstationen, die bemerkt haben, dass der von ihnen Betreute in der Familie geschlagen wird.

Subtile Gewalt
Im häuslichen Alltag zeige sich Gewalt oftmals viel subtiler, sagt Unger. Da werde geschwiegen, gedroht oder dem Schlaganfallpatienten das Wasserglas auf die gelähmte Seite gestellt. Eine Berlinerin hatte berichtet, beim Anblick ihrer alten Mutter Abwehr und Ekel zu fühlen. Sie sei regelrecht aus ihrer Wohnung geflüchtet und habe die alte Frau lange allein gelassen.

Das größte Problem sei die lange Dauer der Pflege, sagt Unger. Oft versorge zudem ausgerechnet jenes Kind die Mutter oder den Vater, das früher das schwierigste Verhältnis zu ihnen hatte. Dann brächen in der täglichen Betreuung oftmals alte Konflikte auf.

Kaum Anrufe zwischen "den Tagen"
Zwischen Weihnachten und Neujahr stehen die Telefone bei der Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter, Handeln statt Misshandeln (HsM), allerdings still, wie HsM-Vorsitzender Hirsch sagt. Wahrscheinlich sei die Angst, ausgerechnet in dieser Friedenszeit anzurufen, zu groß. Das Konfliktpotenzial sei aber gerade in dieser Zeit am höchsten, wenn die Familie über mehrere Tage eng beieinander sei. Da gebe es dann auch Vorwürfe von angereisten Verwandten zur Pflege von nahen Angehörigen. Daran entbrenne dann so mancher Streit.

Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2010 auf rund 2,36 Millionen und im Jahr 2020 auf 2,83 Millionen steigen. Der Anteil der Pflegebedürftigen an der Bevölkerung, derzeit 2,5 Prozent, wird bis 2020 auf etwa 3,4 Prozent steigen.