Frankreich und Türkei streiten über Völkermord an Armeniern

Eine Frage der Definition

Der Völkermord an den Armeniern: Kaum ein anerkannter Historiker bestreitet mehr, dass die Massaker an Armeniern und aramäischen Christen während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich einen Genozid darstellten. Bis zu 1,5 Millionen Menschen starben, türkische Nationalisten sehen jedoch darin keinen Völkermord, sondern "tragische Folgen einer Zwangsumsiedlung".

 (DR)

Der Völkermord an den Armeniern: Kaum ein anerkannter Historiker bestreitet mehr, dass die Massaker an Armeniern und aramäischen Christen während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich einen Genozid darstellten. Bis zu 1,5 Millionen Menschen starben, türkische Nationalisten sehen jedoch darin keinen Völkermord, sondern "tragische Folgen einer Zwangsumsiedlung". Der Bundestag hatte die Deportation und Vernichtung der Armenier schon 2005 als Völkermord bezeichnet und wütende Proteste hervorgerufen. Nun hat die französische Nationalversammlung ein Gesetz verabschiedet, das die Leugnung des Genozids unter Strafe stellt. Als Reaktion hat Ankara Frankreich mit wirtschaftlichen Sanktionen gedroht. Hintergrund der Scheindebatte ist der angestrebte EU-Beitritt der Türkei, meint Stefan Simons von der Spiegel-Redaktion in Paris im domradio-Interview.


Türkischer Protest ohne Folgen
Trotz Protesten der Türkei und aus Brüssel hat das französische Parlament das Gesetz angenommen, das die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs unter Strafe stellt. Wer den Genozid im Osmanischen Reich abstreite, müsse mit einem Jahr Gefängnis und 45.000 Euro Geldstrafe rechnen, entschieden die Pariser Abgeordneten am Donnerstag. Dasselbe Strafmaß gilt bereits für Personen, die den Völkermord an den Juden im Dritten Reich leugnen.

Der französische Senat sowie Präsident Jacques Chirac müssen dem Gesetz noch zustimmen. Die türkische Regierung verurteilte das Parlamentsvotum scharf und sprach von einem „Rückschlag für die französisch-türkischen Beziehungen". Schäden für französische Exportunternehmen könne er nicht ausschließen, sagte Wirtschaftsminister Ali Babacan Medienberichten zufolge. Die Türkei weigert sich bisher vehement, den Genozid anzuerkennen. In Frankreich leben rund 400.000 Armenier - eine der größten armenischen Gemeinden in Westeuropa.


Skepsis auch bei der EU-Kommission
Auch die EU-Kommission in Brüssel zeigte sich skeptisch. Eine Sprecherin von EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn sagte, das Gesetz könnte die Debatte verhindern, die für eine Versöhnung dringend notwendig sei. Die Türkei habe gerade begonnen, sich dem Thema zu öffnen. So habe Ministerpräsident Recep Erdogan die Gründung einer Historiker-Kommission angeregt, die die „geschichtliche Wahrheit" der Vorwürfe ergründen solle. Die Anerkennung des Völkermordes gehöre nicht zu den EU-Kriterien für einen Beitritt der Türkei, betonte die Sprecherin.

Allerdings müsse auch die Türkei die rechtlichen Grundlagen der Meinungsfreiheit weiter stärken, sagte die Kommissionssprecherin. Insbesondere der Artikel 301 des Strafgesetzbuches müsse reformiert werden. Auf der Grundlage dieses Artikels waren in jüngerer Zeit mehrere Intellektuelle, die das Thema des Genozids aufgegriffen hatten, wegen „Beleidigung des Türkentums" angeklagt worden. Zu ihnen gehörte auch Orhan Pamuk, der diesjährige Träger des Literatur-Nobelpreises.

Sowohl Staatspräsident Chirac als auch seine mögliche Nachfolgerin, die Sozialistin Ségolène Royal, hatten dagegen verlangt, die Türkei müsse vor einem Beitritt den Völkermord eingestehen. Die Türkei-Skepsis in der französischen Bevölkerung ist groß: Beobachter werten den möglichen Beitritt als einen der Gründe für die Ablehnung der EU-Verfassung im Jahr 2005.

(dr,epd,rv)

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