Zur Mitgliedschaft von Günter Grass bei der Waffen-SS

"Eine Jugendtorheit, mehr nicht"

Der Journalist und Schriftsteller Günter Wallraff hat seinen Kollegen Günter Grass in Schutz genommen. Im domradio sagte Wallraff, Grass habe sich in der Nachkriegszeit stets glaubhaft und differenziert eingemischt. Ihn heute zu einer moralischen Unperson machen zu wollen, sei nichts als "große Heuchelei".

 (DR)

Der Journalist und Schriftsteller Günter Wallraff hat seinen Kollegen Günter Grass in Schutz genommen. Im domradio sagte Wallraff, Grass habe sich in der Nachkriegszeit stets glaubhaft und differenziert eingemischt. Ihn heute zu einer moralischen Unperson machen zu wollen, sei nichts als "große Heuchelei". Allerdings räumt Wallraff ein, dass PR-Kalkül hinter dem späten Bekenntnis stecken könne. Grass hatte vergangene Woche eingestanden, als Jugendlicher der Waffen-SS beigetreten zu sein.

Hören Sie hier einen domradio-Beitrag über Günter Wallraffs Stellungnahme zu Günter Grass.

Lehmann: Grass hat gute Gelegenheiten verpasst
In einem vorab veröffentlichten Beitrag hat Kardinal Karl Lehmann vor Häme und moralischer Verurteilung des Schriftstellers gewarnt, übt aber zugleich auch Kritik am Vorgehen des Literaturnobelpreisträgers. Grass habe nicht nur zahlreiche gute Gelegenheiten verstreichen lassen, um sich zu seiner Vergangenheit zu bekennen.

Er habe zudem führende deutsche Politiker wie Konrad Adenauer, Franz-Josef Strauß und Kurt Georg Kiesinger wegen ihrer Rolle während der NS-Zeit Jahre lang attackiert. Indirekt appellierte Lehmann an den Autor, sich wegen seines harten Urteils über andere zu entschuldigen. "Wie hat er Ende 1966 auf Kurt Georg Kiesinger in einem Offenen Brief eingedroschen, als Grass wegen Kiesingers Mitgliedschaft in der NSDAP vor dessen Wahl zum Bundeskanzler empörten Einspruch erhob", schreibt der Mainzer Bischof. Er mahnt zugleich, mit dem "ziemlich späten Geständnis gütig" umzugehen. Dass Grass als 17-Jähriger zur Waffen-SS gegangen sei, könne man angesichts der Zeitumstände auch mit Nachsicht betrachten.

Knobloch: "PR-Massnahme zur Vermarktung des neuen Buchs"
"Sicher ist es auch der Versuch von einigen, mich zur Unperson zu machen", sagte der 78-Jährige in einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa. "Deshalb bin ich dankbar, dass es differenzierende Gegenstimmen gibt. Ich kann nur hoffen, dass einige Kommentatoren jetzt mein Buch genau lesen." Ende September erscheint Grass' Biographie "Beim Häuten der Zwiebel".

Das "späte Geständnis" kurz vor Veröffentlichung des neuen Buches lege "die Vermutung nahe, dass es sich um eine PR-Massnahme zur Vermarktung des Werkes handelt", sagte Knobloch der "Netzeitung". Grass sei stets als "strenger moralischer Mahner aufgetreten", sagte Knobloch. "Sein langjähriges Schweigen über die eigene SS-Vergangenheit führt nun seine früheren Reden ad absurdum."

Thissen: Erschütterung und Respekt
Tief betroffen hat sich Hamburgs Erzbischof Werner Thissen über das Geständnis von Günter Grass geäußert, im Zweiten Weltkrieg Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. "Nicht die Tatsache, dass Grass bei der Waffen-SS war, erschüttert mich - erschüttert bin ich darüber, dass ein Mensch mehr als sechs Jahrzehnte braucht, um sich zu öffnen", sagte er am Montag in Hamburg. Zugleich bekundete er "Respekt", dass Grass "jetzt, in hohem Alter, die Kurve gekriegt hat". Der in Lübeck wohnende Schriftsteller hatte am Wochenende offenbart, 1944 als 17-Jähriger der NS-Eliteformation beigetreten zu sein.

An dem Autor sei zu erleben, "wie schwer es sein kann, sich als Mensch zu öffnen", betonte Thissen. "Ich hätte mir gewünscht, Grass hätte viel früher zu dieser Wahrheit seines Lebens gestanden", so der Erzbischof. Das Bekenntnis komme zwar spät, "aber zu spät ist es nie, wenn ein Mensch sein Leben in Ordnung bringen will".

Jeder zehnte deutsche Soldat
Unterdessen hat eine Umfrage ergeben, dass 87 Prozent der Deutschen dafür sind, dass Günter Grass den Literatur-Nobelpreis behält. Nur 8 Prozent äußern die Ansicht, der Schriftsteller solle die Auszeichnung zurückgeben, wie aus einer am Dienstag in Hamburg veröffentlichten Forsa-Umfrage für die Illustrierte "Stern" hervorgeht. 5 Prozent waren unentschieden.

Die Waffen-SS wurde 1938 aus Einheiten der Schutzstaffel (SS) gebildet, einer aus Hitlers Leibstandarte hervorgegangenen NS-Eliteformation. Im Weltkrieg stellte die Waffen-SS vielerorts das KZ-Wachpersonal und war an zahllosen Mordaktionen hinter der Front beteiligt, so in Oradour-sur-Glane 1944. Die SS-Panzerdivision "Frundsberg", der Grass angehörte, der regulären Wehrmacht angegliedert. Bei Kriegsende zählten rund 910.000 Männer zur Waffen-SS, jeder zehnte deutsche Soldat.
(KNA, dr)

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