Religionssoziologe sieht kaum Chancen gegen Austrittstrend

Kirche zu weit von der Lebensrealität entfernt?

Im vergangenen Jahr sind so viele Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten wie noch nie. Über 350.000 Mitglieder kehrten ihr den Rücken. Den Religionssoziologen Gerd Pickel überraschen diese Zahlen nicht sonderlich.

Warteschlange zum Kirchenaustritt / © Sven Hoppe (dpa)
Warteschlange zum Kirchenaustritt / © Sven Hoppe ( dpa )

DOMRADIO.DE: Für Sie dürften die Austrittszahlen kaum überraschend gewesen sein, oder?

Prof. Dr. Gert Pickel (Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig): Das kann man so sagen. Es ist nicht ganz überraschend. Etwas überraschend ist vielleicht, dass sich die Zahlen doch so massiv noch mal zum vergangenen Jahr unterschieden haben. Es ist ja fast eine Verdopplung gegenüber dem letzten Jahr. Das ist durchaus beachtlich.

DOMRADIO.DE: Spiegeln die Zahlen einen Trend wider, den es schon seit längerem gibt?

Pickel: Es gibt sozusagen zwei Richtungen. Einerseits haben wir seit den 1970er Jahren schon einen Trend des Austritts, der sich kontinuierlich in relativ großen Größenordnungen durchgesetzt hat. Gerade in der katholischen Kirche konnte man aber über Jahrzehnte sagen, dass sehr viel mehr Protestanten als Katholiken austreten.

Das hat sich deutlich gewandelt. Da spielt zu einen der Missbrauch eine ganz bedeutende Rolle und aber auch der immer deutlicher aufkommende Eindruck bei den Gläubigen, dass sich diese katholische Kirche nicht bewegt. Man macht zwar einen synodalen Prozess, aber aus Rom kommt immer ein "Nein" dazu. Darauf haben einige dann keine Lust mehr.

DOMRADIO.DE: Wenn die Austrittszahlen hoch sind, kann man dadurch auch schon Folgen für die Gesellschaft beobachten?

Pickel: Bislang ist es noch relativ übersichtlich. Aber man kann sich bei einem Blick in die Zukunft denken, dass Kirchen eigentlich eher auf dem Land als in den Städten vorhanden sind. Es gibt Gebiete, von denen man früher gesagt hätte, da sei außer Feuerwehr und Kirche nicht viel vorhanden.

Dieses Bild kommt natürlich zunehmend unter Druck. Zum einen durch die finanziellen Verluste, die langsam beginnen, aber vor allem mit den Personalverlusten. Weil keine Personen mehr da sind, kann man natürlich nicht mehr in jeder Ortschaft, in jeder Kleinstadt so präsent sein, wie man das früher war.

Das macht sich schon bemerkbar. Denn Kirchengemeinden und das, was sich drum herum ansiedelt, sind im räumlichen Bereich besonders wichtig. Im städtischen Bereich gibt es vielleicht noch Ausgleich, aber außerhalb der Städte ist es dann doch ein bisschen anders.

DOMRADIO.DE: Welche Folgen haben denn die Austrittszahlen für die Identität unseres Landes? Wird die durch eine säkulare Haltung mehr und mehr ersetzt?

Pickel: Es ist in gewisser Hinsicht problematisch, denn die Kenntnisse, das Wissen, das wir über Religion haben, schwindet natürlich damit auch. Zudem ist Religion nicht nur kulturell, sondern bisher auch sozial überall vertreten gewesen. Bei jeder sozialen "Tafel" kann man sich fragen, ob die Kirche da mit beteiligt ist.

In diesem Sinne ist es schon etwas, was sich über längere Sicht bemerkbar machen wird. Nicht alles lässt sich eins zu eins ersetzen. Zudem verweisen die Bezüge im religiösen Sektor, die bis ins Grundgesetz hineingehen, darauf, dass eine Auseinandersetzung mit Religion zumindest wichtig ist. Setzt man sich nicht mit Religion auseinander, kommt man mit anderen Religionen nämlich auch nicht zurecht.

DOMRADIO.DE: Gibt es aus Ihrer Sicht für die Kirchen eine Chance, diesen Austrittstrend zu stoppen? Und wie könnte der aussehen?

Pickel: Es ist ausgesprochen schwierig, diesen Trend zu stoppen. Das kann man schon über 50 Jahre beobachten. Es gibt natürlich Bewegungen in der Kirche, sich moderner aufzustellen. Das ist nämlich das, was die Mitglieder wollen, wenn man sie befragt.

In der evangelischen Kirche merkt man das stückchenweise. Aber selbst da zieht es nicht groß durch. Denn wir haben es mit einem Säkularisierungprozess zu tun, bei dem wir an vielen Orten eine beschleunigte Gesellschaft haben, die mit Kirche nicht mehr so ganz harmoniert.

Nur macht die katholische Kirche gerade ganz besonders deutlich, dass sie eben mit der Gegenwart gar nicht unbedingt harmonieren möchte. Das zeigt sich bei Dingen, die beim Synodalen Weg auf den Weg gebracht werden. Dann kriegt man aus Rom eine abschlägige Äußerung zu hören. Das ist dann eher ärgerlich.

Oder wenn man sich jetzt aktuell mit der Sichtweise des Vatikan zu den Entscheidungen, die in den USA getroffen worden sind, solidarisiert, dann sagt sich natürlich auch so manch deutscher katholische Gläubige, das habe mit dem, wie wir leben, eigentlich nicht mehr viel zu tun.

Da gibt es keine großen Hoffnungen, das umzukehren. Vielmehr wird man sich wohl noch die nächsten Jahre weiter beschäftigen müssen. Man muss wahrscheinlich erkennen, dass wir irgendwann nicht mehr das haben, was wir gewohnt sind, nämlich eine große Volkskirche.

Vielmehr werden wir eine Kirche haben, die sich plural unter anderen Gruppierungen bewegt. Das ist dann ein bisschen wie eine NGO (Nichtregierungsorganisation, Anm. d. Red.), vielleicht auch ein wenig mehr, weil sie kulturell und historisch stärker verankert ist. Aber halt auch nicht viel mehr.

Das Interview führte Bernd Hamer.

Quelle:
DR
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