Wie Religion die Wahlen in Brasilien mitentscheidet

Katholiken für Lula, Evangelikale für Bolsonaro?

Der linke Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva führt die Umfragen zu den Wahlen am 2. Oktober deutlich an. Nur unter den evangelikalen Wählern liegt der rechtspopulistische Präsident Jair Messias Bolsonaro vorn. Wie kommt das?

Autor/in:
Thomas Milz
 © Fernando Souza (dpa)
© Fernando Souza ( dpa )

Am 7. September, Brasiliens Unabhängigkeitstag, hat Präsident Jair Messias Bolsonaro seine Anhänger am Copacabana-Strand von Rio de Janeiro versammelt. "Der Staat ist laizistisch, aber dieser Präsident hier ist ein Christ!" ruft der ehemalige Hauptmann der Menge entgegen. Er stehe für Gott, Familie und Vaterland; sein Herausforderer, Ex-Präsident Luiz Inacio "Lula" da Silva von der linken Arbeiterpartei PT, hingegen plane die Freigabe von Abtreibung und die Legalisierung von Drogen.

Bolsonaro steht mit dem Rücken zur Wand. Umfragen sehen ihn rund zwölf Prozentpunkte hinter Lula da Silva. Der 76-Jährige könnte im ersten Wahlgang am 2. Oktober bereits gewinnen und damit eine Stichwahl vier Wochen später unnötig machen. So setzt Bolsonaro derzeit alles auf seine stärkste Karte: die enge Verbindung zu den evangelikalen Kirchen. Sie hatten bei seiner Wahl 2018 den Ausschlag gegeben: Während er bei den Katholiken gleichauf mit Fernando Haddad von der PT lag, gewann er unter den Evangelikalen doppelt so viele Stimmen wie Haddad.

Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien / © Marcos Correa/Palacio Planalto (dpa)
Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien / © Marcos Correa/Palacio Planalto ( dpa )

Kirche in Brasilien

Mit geschätzt rund 125 Millionen Katholiken (nach offiziellen Taufzahlen des Vatikan 171 Millionen) ist Brasilien das größte katholisch geprägte Land der Welt. Angesichts enormer sozialer Gegensätze ist das Engagement der Kirche für Arme und Entrechtete weithin anerkannt; Brasilien ist einer der Ausgangspunkte der sogenannten Theologie der Befreiung. Zugleich macht der katholischen Kirche eine wachsende Zahl protestantischer und evangelikaler Kirchen und Sekten ihre Rolle streitig.

Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa (dpa)
Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa ( dpa )

Doch diesmal liegt Lula bei den Katholiken deutlich vorn. Eine neue Umfrage sieht den Ex-Gewerkschaftsführer dort bei 52 Prozent, Bolsonaro bei 26 Prozent. Zwar kann Bolsonaro dieses Verhältnis bei den Evangelikalen umdrehen. Doch noch sind 50 Prozent der 210 Millionen Brasilianer katholisch; als evangelikal bezeichnen sich 30 Prozent. Selbst bei einem außerordentlich guten Abschneiden Bolsonaros unter den  Evangelikalen ist es fast unmöglich, Lulas Vorsprung aufzuholen.

Ist Bolsonaros Corona-Politik schuld?

Experten glauben, dass Bolsonaros desaströse Corona-Politik zu seiner Unbeliebtheit im katholischen Lager beigetragen hat. So weigerte sich der Präsident, Maßnahmen wie Social Distancing und die rasche Impfung der Bevölkerung zu unterstützen. Mit über 685.000 Opfern ist Brasilien das Land mit den zweitmeisten Corona-Toten. Bolsonaros Forderung, die Kirchen auch während der Pandemie uneingeschränkt offen zu halten, kam bei den Evangelikalen besser an als bei den Katholiken.

Kritik von katholischen Bischöfen musste sich Bolsonaro für die Liberalisierung der Schusswaffengesetze gefallen lassen. Zudem nimmt man dem Katholiken Bolsonaro übel, dass er sich aus Machtinteresse über die Jahre immer enger an die großen Pfingstkirchen band. Anfang September riefen 450 katholische Priester in einem Offenen Brief zur Abwahl Bolsonaros auf. Er habe den Namen Gottes missbraucht und Hassreden gehalten. Das Schreiben brach mit der Tradition der katholischen Kirche, sich im Wahlkampf nicht offen politisch zu positionieren.

Luiz Inacio Lula da Silva bewirbt sich um die Wiederwahl in Brasilien 2022 / © Silvia Izquierdo (dpa)
Luiz Inacio Lula da Silva bewirbt sich um die Wiederwahl in Brasilien 2022 / © Silvia Izquierdo ( dpa )

Von Bolsonaros Unbeliebtheit profitiert derweil der frühere Gewerkschaftler Lula, der Brasilien bereits von 2003 bis 2010 regierte. Die Wurzeln seiner 1980 gegründeten Arbeiterpartei liegen in den katholischen Sozialbewegungen der Industriemetropole Sao Paulo. Für seine beiden erfolgreichen Wahlkämpfe 2002 und 2006 war es ihm gelungen, auch Allianzen mit den wichtigsten Pfingstkirchen zu schmieden. Nach zahlreichen Korruptionsskandalen wechselten die Pfingstkirchen jedoch zuerst zu den Zentrumsparteien, bevor sie sich 2018 Bolsonaros Kampagne anschlossen.

Der "Auserwählte Gottes"

Dieser hatte sich 2016 von einem evangelikalen Pastor im Jordan taufen lassen - Bilder, die im kollektiven Bewusstsein der Evangelikalen hängenblieben. Nach einer jüngsten Umfrage glauben 50
Prozent der Evangelikalen, dass Bolsonaro evangelikal sei und nicht katholisch. Lediglich 16 Prozent der Befragten wussten demnach, dass der Präsident Katholik ist. Bei der Annäherung an die Evangelikalen hilft ihm seine Ehefrau Michelle, die ihnen seit ihrer Kindheit angehört.

So trat das Präsidentenpaar in den vergangenen Wochen verstärkt bei religiösen Veranstaltungen auf. Dort war es die First Lady, die das Wort führte und Predigten hielt. Darin bezeichnete sie ihren Ehemann aus "Auserwählten Gottes". Dass er 2018 kurz vor der Wahl ein Attentat überlebte, sei der Beweis dafür, dass Gott große Pläne mit ihm habe. Konkret verspricht sich das evangelikale Lager von einer zweiten Amtszeit Bolsonaros die Ernennung zweier evangelikaler Richter beim Obersten Gericht. Bereits 2021 hatte Bolsonaro einen presbyterianischen Pastor in das Gremium berufen.

Oppositionskandidat Lula da Silva hat Anfang September auf die Offensive des Ehepaars Bolsonaro reagiert und setzt nun verstärkt auf speziell für das evangelikale Publikum zugeschnittene Wahlwerbung; darunter eine Broschüre mit Auszügen aus Lulas Wahlprogramm und Bibelzitaten. Man möge für Brasilien und für Lula beten. «Denn wenn die Gerechten regieren, freut sich das Volk», zitiert er das Buch der Sprichwörter aus dem Alten Testament. 

Quelle:
KNA