Italiens Zurückhaltung bei Aufklärung sexualisierter Gewalt

Angst vor dem Öffnen der Büchse der Pandora

Betroffene von Missbrauch in Italiens Kirche vernetzen sich, eine Datenbank zu Missbrauchsfällen geht online, die BBC veröffentlicht eine investigative Recherche zu mangelnder Missbrauchsverfolgung. Ein Beben im Land bleibt aber aus.

Autor/in:
Severina Bartonitschek
Treffen von Mitgliedern der Organisation "Ending Clergy Abuse" (ECA), die sich für Opfer von kirchlichem Missbrauch einsetzt / © Stefano Dal Pozzolo/Romano Siciliani (KNA)
Treffen von Mitgliedern der Organisation "Ending Clergy Abuse" (ECA), die sich für Opfer von kirchlichem Missbrauch einsetzt / © Stefano Dal Pozzolo/Romano Siciliani ( KNA )

Es ist eine Geschichte von unzähligen. Die von Mario, wie ihn die BBC nennt. Mit acht Jahren wurde der Italiener das erste Mal von Priester B. missbraucht, es folgten 16 Jahre "sexuelle Sklaverei", wie Mario dem BBC-Reporter erzählt. Jahre später wurde B. von einem Kirchengericht zwar für schuldig befunden und ihm der Umgang mit Minderjährigen lebenslang untersagt. Als Priester arbeitet er aber bis heute.

Wenig Interesse in Italien

Der britische Sender hat den Priester aufgespürt, breit über jahrelange Versäumnisse in der italienischen Missbrauchsaufklärung berichtet. Doch ein politischer oder gesellschaftlicher Aufschrei in Italien blieb bislang aus. Die Kirche reagierte gar nicht. Die Medien verhalten. Der Vorgang ähnelt den Ereignissen in der vergangenen Woche. Der Zusammenschluss von Betroffenenverbänden stieß zwar noch auf ein breites Medienecho, die Veröffentlichung einer Datenbank zu Missbrauchsfällen fand nahezu keinen Widerhall.

Hans Zollner, Präsident des Zentrums für Kinderschutz (CCP) / © Francesco Pistilli (KNA)
Hans Zollner, Präsident des Zentrums für Kinderschutz (CCP) / © Francesco Pistilli ( KNA )

In Politik und Medien gebe es noch immer eine große Zurückhaltung, erklärt Kinderschutz-Experte Hans Zollner die Situation in Italien. Viel Widerstand liegt seines Erachtens darin begründet, dass kaum jemand in Sport, Tourismus, Mode oder Film - alles wichtige Branchen für Italien und seine Wirtschaft - ein Interesse habe, die Büchse der Pandora zu öffnen, so der Leiter des bisherigen Kinderschutzzentrums und neuen Safeguarding-Instituts in Rom.

Denn das Martyrium, von dem Mario der BBC erzählte, ähnelt jenen Fällen, die auch das italienische Betroffenennetzwerk "Rete l'abuso" seit zwölf Jahren sammelt. Am vergangenen Freitag veröffentlichte der Verband in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift "Left" ein Onlinearchiv für Missbrauchsfälle in Italien. Aufgelistet sind darin bislang 61 Fälle mit 182 Menschen, die von Missbrauch betroffen sind. Die Fälle stammen aus den Jahren 1993 bis 2021 und betreffen Kindesmissbrauch, Besitz von Kinderpornografie, Prostitution von Kindern und Anstiftung dazu, schwere sexuelle Nötigung sowie Gewalt gegen Kinder und Frauen. Die Datenbank soll fortlaufend aktualisiert und erweitert werden.

Datenbank zu Missbrauchsfällen

Ziel des Archivs sei es, "den gravierenden Mangel bei der Erfassung dieses kriminellen Phänomens zu beheben, die weder von der Kirche noch vom Staat vorgenommen wurde", so der verantwortliche "Left"-Redakteur Federico Tulli bei der Vorstellung der Datenbank. Um etwas gegen Kindesmissbrauch tun zu können, müsse vor allem die Öffentlichkeit verstehen, was Pädophilie ist und wo deren Ursachen liegen, nicht nur in der Kirche, sondern auch in der säkularen Gesellschaft, schloss der Redakteur.

Säkularität beziehungsweise deren Mangel in Italien wird von Missbrauchsbetroffenen immer wieder beanstandet. Mehr als 80 Prozent der Italiener sind katholisch, Priester hoch angesehen. Darin sehen Betroffenenverbände einen der Gründe, warum ihrer Forderung nach einer unabhängigen Untersuchungskommission für Missbrauch in der italienischen Kirche bisher nicht nachgegangen wurde. "Italien ist taub, weil es der klerikalen Kultur starrsinnig ergeben ist und nie eine echte Säkularität des Staates erlebt hat", befand etwa Marzia Benazzi von der Interreligiösen Beobachtungsstelle für Gewalt gegen Frauen in Italien.

Benazzis Organisation ist Teil eines neuen Netzwerks von Betroffenenverbänden, das Mitte Februar gegründet wurde. Darunter sind auch katholische Bewegungen wie die Frauenrechtsverbände "Donne per la Chiesa" (Frauen für die Kirche) und "Voices of Faith" oder die italienische Sektion von "Wir sind Kirche". Ihre Kampagne "Gegen das große Schweigen - #ItalyChurchToo", verbunden mit der neuen Datenbank, ist der jüngste Versuch, den Druck auf Staat und Kirche zu erhöhen: für eine unabhängige Aufarbeitung von Missbrauch.

Kinderschutz-Experte Hans Zollner

Jahrelang haben wir darauf hingearbeitet, dass sich auch die italienische Kirche dem Missbrauch stellt. Nun sind erste Zeichen sichtbar, dass die Stimmen Betroffener und jener gehört werden, die sich für eine verantwortliche und transparente Kirche einsetzen.

Präventionsarbeit verbessern

Das Kinderschutzzentrum CCP an der Gregoriana

Gegründet wurde das Kinderschutzzentrum 2012 von der Gregoriana, der Erzdiözese München-Freising sowie der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Universitätsklinik Ulm.

Während einer dreijährigen Pilotphase bis Ende 2014 war München Sitz des Zentrums; Anfang 2015 siedelte das CCP nach Rom an die Universität über. Das Zentrum ist Teil des Psychologischen Instituts der Gregoriana und gehört mittlerweile zu den führenden Einrichtungen weltweit, die sich mit Missbrauchsprävention und -aufarbeitung befassen.

Päpstliche Universität Gregoriana / © Stefano Dal Pozzolo/Romano Siciliani (KNA)
Päpstliche Universität Gregoriana / © Stefano Dal Pozzolo/Romano Siciliani ( KNA )

Eine Untersuchung schlossen Italiens Bischöfe kürzlich nicht mehr aus. Der Vorsitzende der Italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Gualtiero Bassetti, erklärte in einem Interview mit dem "Corriere della Sera" Ende Januar, "es wäre weder für die verwundete Gemeinschaft noch für die Kirche ein guter Dienst, wenn wir übereilt handeln würden, nur um Zahlen zu nennen". Über Zahlen hinaus solle es eine weitergehende inhaltliche Aufarbeitung werden. Ziel sei es, Präventionsarbeit sowie Ausbildung von Priestern und Laien zu stärken und zu verbessern.

Francesco Zanardi, Sprecher des Netzwerks "Rete L'Abuso", das sich für Opfer von kirchlichem Missbrauch einsetzt / © Stefano dal Pozzolo (KNA)
Francesco Zanardi, Sprecher des Netzwerks "Rete L'Abuso", das sich für Opfer von kirchlichem Missbrauch einsetzt / © Stefano dal Pozzolo ( KNA )

Derzeit arbeitet die italienische Kirche an der Umsetzung der Maßnahmen zum Betroffenenschutz. In allen der rund 220 Bistümer gebe es Jugendschutzzentren, so Kardinal Bassetti, in etwa 40 Prozent der Bistümer bereits diözesane und interdiözesane Beratungsstellen. Weitere sollen folgen. Gegen eine unabhängige Untersuchungskommission sprach sich auch Erzbischof Vincenzo Paglia, Vorsitzender der Päpstlichen Akademie für das Leben, aus; die Kirche könne dies allein.

Kinderschutz-Experte Hans Zollner bewertet die jüngsten Entwicklung als Fortschritt: "Jahrelang haben wir darauf hingearbeitet, dass sich auch die italienische Kirche dem Missbrauch stellt. Nun sind erste Zeichen sichtbar, dass die Stimmen Betroffener und jener gehört werden, die sich für eine verantwortliche und transparente Kirche einsetzen."

Zu spät für Mario. Priester B., der ihn jahrelang missbrauchte, arbeitet weiterhin im selben Bistum unter demselben Bischof. Letzterer schiebt, laut BBC, jede Verantwortung auf den Vatikan. Die Glaubenskongregation habe die Entscheidung getroffen, darauf hätte er keinen Einfluss gehabt, so der Bischof.

Einfluss auf eine umfangreiche Untersuchung in ihrer Kirche haben die italienischen Bischöfe. Im Frühjahr könnte Bewegung in das Thema kommen. Die nächste Vollversammlung der Bischöfe findet im Mai statt.

Quelle:
KNA